Jubiläumsjahr 2017 Eine Streitschrift wider Luther

Düsseldorf · Der Historiker Reinhardt hält den Reformator Martin Luther für einen derben Poltergeist.

Das Jubiläumsjahr 2017 steht vor der Tür; am 31. Oktober 1517 soll Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen haben - Luther veränderte die Welt. Kann man hierüber noch wesentlich Neues entdecken? Volker Reinhardt, deutscher Historiker an der Schweizer Universität Fribourg, bejaht diese Frage. Fast nur Protestanten hätten die Geschichtsbücher zur Reformation verfasst. Laut Reinhardt ignorierten sie das Papsttum oder stellten es falsch dar.

Reinhardt hat hingegen kaum beachtete Quellen ausgewertet. Der Historiker analysierte die Schreiben päpstlicher Gesandter, die das damalige Deutschland erkundeten. Besonderes Interesse verdienen die Briefe von Girolamo Aleandro, dem wichtigsten "Deutschland-Experten" des Vatikan, der Luther hasste. Papst Leo X. verstand sogleich: Luthers Thesen bedrohten die Herrschaft der Kurie elementar.

Der Autor sieht in der Reformation einen "Clash der Kulturen". Die humanistisch verfeinerten, "parfümierten", hinterhältigen Italiener stritten gegen barbarisch-plumpe Deutsche. Im kühlen Norden wollte man "römische Höflinge", die den Deutschen Geld wie Blut abzapften, endlich fortjagen.

Völlig neu ist Reinhardts These nicht; ihr Erklärungswert bleibt eingeschränkt. Den Autor inspirierte die Krise der heutigen Europäischen Union. "Hinter deren schöner Einheitsfassade" tummele sich "der Nationalismus heftiger denn je". Luther übersetzte die Bibel ins Deutsche und betonte, wie Arminius gegen Rom zu fechten.

Im Anfang war jedoch Luthers religiöses Gewissen. Seine Kritik des Ablasshandels und die Luthersche Gnadenlehre gefährdeten das päpstliche Dominat. Wenn nur Gott von menschlicher Sünde lossprach, dann betrog der Klerus die Gläubigen um ihr Seelenheil! Nur die Bibel erkannte Luther an; der Papst frevelte, wenn er gottgleich behauptete, jenseits der Schrift zu stehen.

Alle Bemühungen, sich zu verständigen, scheiterten. Luther, rhetorisch versiert, erkannte im Papst eine "teuflische Sau"; die Kurie geiferte zurück: Der deutsche Theologe sei der Hölle entsprungen. Schon während des Wormser Reichstags von 1521, auf dem Luther bekräftigte, nur der Bibel zu folgen, erstarrten die Fronten.

Dennoch irrt Reinhardt, wenn er schreibt, dass Protestanten und Katholiken die Spaltung der Christenheit gleichermaßen verschuldet hätten. Notwendige Reformen lehnte der Vatikan prinzipiell ab; die brutale Niederschlagung der Hussiten sprach eine deutliche Sprache. Zudem forderte der Papst die völlige Unterwerfung der lutherischen "Ketzer". Auch Zwingli, Calvin, Englands König Heinrich VIII., der ursprünglich die katholische Kirche unterstützte, mussten mit Rom brechen, wollten sie der Selbstpreisgabe entgehen. Der schrankenlose papistische Machtwille verhinderte Kompromisse.

Für Reinhardt war Luther hingegen ein derber Poltergeist. Dass der Reformator die religiöse Selbstbestimmung des Individuums verkündete, erwähnt der Historiker eher beiläufig, dafür tadelt er umso mehr dessen Schattenseiten. Für Luther gab es keine Willensfreiheit; gute Christen sollten der Obrigkeit blind gehorchen. Jeder Fürst sei befugt, rebellische Bauern zu töten; an gnadenloser Hexen- und Judenverfolgung fand der Wittenberger nichts auszusetzen. Das sind Schattenseiten des großen Reformators, theologisch aber Nebenkriegsschauplätze.

(RP)
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