Eine Ehe implodiert

Neu auf DVD: Das Drama "45 Years" erzählt vom traurigen Herbst einer Langzeit-Ehe. Vor allem Charlotte Rampling spielt großartig.

Bald ein halbes Jahrhundert. Das sollte reichen, um einen Menschen kennenzulernen. Kate und Geoff Mercer (Charlotte Rampling und Tom Courtenay) waren immer zu zweit auf dem Land im englischen Norfolk. Keine Kinder. Dafür Hunde, Dinner mit Freunden, Bücher. Ihr Miteinander ist liebevoll, umsichtig, man pflegt und belächelt die Gewohnheiten des anderen. So eine Harmonie detoniert nicht in einem einzigen großen Knall. So eine braucht Zeit, um kaputt zu gehen. Als Geoff eines Tages einen Brief vom Küchentisch nimmt und vorliest, begreift Kate nicht gleich, dass der Moment ihre Ehe zersetzen wird. Langsam, mit dem steten Druck einer Implosion.

Zu den feinsten Kinofilmen des vergangenen Jahres gehörte das Lebensherbst-Drama "45 Years", wortkarg inszeniert von Regisseur Andrew Haigh nach David Constantines Short Story "In Another Country". Kate und Geoff stecken mitten in den Vorbereitungen für ihre Party zum 45. Hochzeitstag. Der Brief scheint zunächst nicht mehr als eine unliebsame Unterbrechung. Geoff wird informiert, dass die Leiche seiner vor 50 Jahren verunglückten ersten Liebe in einer Kluft in den Schweizer Alpen entdeckt wurde, perfekt konserviert im Gletschereis. Geoff, der damals beim Unfall dabei war, ist schockiert. Noch schockierter aber ist Kate, der er nie auch nur ein Wort von all dem erzählt hat. In den nächsten Tagen verstummt Geoff, zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Entfernt sich von Kate, die verzweifelt versucht, die Routine aufrecht zu erhalten. Sie beginnt zu hadern mit der Rivalin, die schon lange tot ist. Und deshalb unbesiegbar.

Von falscher Wahrnehmung und unserem Gefangensein in uns selbst erzählt "45 Years". Davon, dass wir den Partner niemals ganz kennen, sondern immer nur einen Ausschnitt. Die Wucht dieser Erkenntnis bringt Kates ganzes Selbstbild ins Wanken. Immer mehr Einzelheiten gräbt sie gegen Geoffs Willen aus seiner Vergangenheit hervor, sie kann nicht anders.

Ihre einsamen Spaziergänge mit dem Hund werden länger, die Tischgespräche kürzer. Abends im Bett stellt Kate jene fatale Sorte Fragen über die Andere, deren ehrliche Beantwortung keine Frau verträgt. Und eines Nachmittags, Geoff ist nicht da, wirft sie auf dem staubigen Dachboden heimlich den Dia-Projektor an, um sich zum ersten Mal alte Fotos dieses schicksalhaften Wanderausflugs von vor 50 Jahren anzusehen.

Es ist eine unendlich traurige Szene. Nicht nur, weil die Bilder Kate schockgleich vorführen, warum sie sowohl ihren Mann als auch die Grundlage ihrer Ehe nie wirklich verstanden hat. Sondern auch, weil man als Zuschauer zu diesem Zeitpunkt bereits weiß, dass es von ihren eigenen 45 Jahren mit Geoff kein einziges Bild gibt.

Die britischen Charakterschauspieler Charlotte Rampling und Tom Courtenay spielen den lautlosen Zerfall mit großer Würde und einer leisen Kraft, die in Kinozeiten wie diesen besonders lange nachhallt. Besonders Rampling ist hinreißend: Mit einem halben Blick, einer winzigen Handbewegung oder notfalls nur Körperspannung legt sie das innere Inferno einer Frau bloß, die sich geborgen glaubte und nun erkennen muss, dass sie immer allein war. Schlimmer noch, zweite Wahl. Und dass ihr Leben in all seinen Faktoren, vom Wohnort bis zur Kinderlosigkeit, vom Schicksal einer anderen diktiert wurde.

"Wenn wir älter werden, hören wir auf, Entscheidungen zu treffen", sagt Geoff gegen Ende. "Deshalb sind die, die wir in unserer Jugend treffen, so verdammt wichtig." Die Vergangenheit, die ins Jetzt einbricht, um alte Wunden wieder aufzureißen: Als Kinostoff ist das natürlich nicht neu.

Auf den ersten Blick reiht "45 Years" sich unter all jene Filme, die in den vergangenen Jahren das ältere Publikum für sich entdeckt haben wie "The Best Exotic Marigold Hotel", "Wir sind die Neuen" oder zuletzt "Mr. Holmes". Aber Kate und Geoff sind zusammen eben noch viel mehr als das, so wie sie auch im Film mehr ausmachen als die Summe ihrer Teile.

Ihr stiller Clinch zeigt, wie keine Beziehung jemals stillsteht, und dass Liebe niemals eine sichere Bank ist, egal wie lange man das Konto schon führt. Man könnte Kates und Geoffs Wechselspiel ewig zusehen. Aber wie die Dinge liegen, wäre es schon ein Glück, wenn sie es bis zur Party schaffen.

(RP)
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