Mülheim Dramatische Sprachverwirrung

Mülheim · Mülheimer Theatertage eröffnen mit einem Stück, in dem Migranten erzählen - in ihrer Muttersprache und gebrochenem Deutsch.

Stefan ist überfordert. Da sitzt dieses Paar bei ihm im Deutschkurs und streitet auf Hebräisch, Arabisch, Englisch und in gebrochenem Deutsch. Sie ist Israelin, er palästinensischer Israeli, der Nahostkonflikt tobt in ihrer Ehe. Nun sind sie mit ihrem Sohn nach Berlin gezogen, um endlich als Familie ein harmloses Leben führen zu können, ohne dass sich die große Politik ständig in ihren Alltag mischt. Doch in Neukölln werden sie von ihren Arabisch sprechenden Nachbarn argwöhnisch beobachtet, und der Holocaust lässt sich in Berlin auch nicht leicht verdrängen. Nun sollen sie im Unterricht einfache Fragen beantworten wie: Wer bist du? Woher kommst du? Natürlich sind die Sprachschwierigkeiten dabei das geringste Problem. Und Stefan, der gutmeinende Deutschlehrer, der doch nur beim Integrieren helfen, also niemandem wehtun will, schwitzt und stammelt. Sich politisch korrekt auszudrücken, kann schwieriger sein als jede Fremdsprache.

Mit einem Sprachverwirrungs-Migranten-Weltkrisen-Stück von der in Berlin lebenden, israelischen Regisseurin Yael Ronen haben in Mülheim die 41. Theatertage begonnen. Ein furioser Auftakt, geht es bei diesem Festival der wichtigsten aktuellen Stücke der Saison doch auch immer um die Frage, wie Theater auf Gegenwart reagiert. Und neuerdings auch darum, was Autorenschaft bedeutet, wenn Schauspieler, Dramaturgen, Regisseure sich zusammentun und ihre Stücke im Kollektiv entwickeln.

So wie Yael Ronen. Sie beruft ihre Schauspieler immer auch aufgrund ihrer biografischen Bezüge zum jeweiligen Thema und formt die Texte für ihre Inszenierungen aus dem, was die Darsteller in die Projekte mitbringen. Ronen ist also eine virtuose Ver-Dichterin, deren Kunst beim Casting beginnt und die eine Gabe besitzt, Menschen auf der Bühne zu vereinen, zwischen denen es Spannungen gibt. Spannungen, die auch im Großen existieren, in der Politik, in den Krisenregionen der Welt. So wird Theater zur Bühne für das Weltgeschehen, werden abstrakte Konflikte konkret, wird Aufklärung spielerisch.

In "The Situation" lernen die Zuschauer etwa einen Syrer kennen, der vom Überleben im Kriegsalltag berichtet. Davon, wie der Krieg zu Wendigkeit, Cleverness, Abgebrühtheit erzieht - und davon, wie lange ein Mensch das aushält. Oder eine junge Frau aus Jenin im Westjordanland, die als Künstlerin hinaus in die Welt will, der man aber nicht glaubt, dass sie Palästinenserin ist, weil sie zur Gruppe der Schwarzen in Jenin zählt, von deren Existenz kaum jemand weiß. "The Situation" unterwandert Erwartungen, erzählt Geschichten jenseits der Stereotype und greift dann doch wieder tief in die Klischeekiste, etwa, wenn der hilflose, schwule Deutschlehrer karikiert wird, der sich für seine eigene Wohlstandsherkunft schämt, vieles gut meint, nicht alles gut macht. Das hat kabarettistische Züge, wie die Sprachverwirrung und interkulturellen Missverständnisse in diesem Stück ohnehin großen Unterhaltungswert besitzen. Ronens Theater ist bissig, ironisch, nie langweilig. Und es betrifft jeden, der im Saal sitzt, egal, woher er kommt, denn es handelt von "The Situation", der Lage, in der sich Deutschland und die Welt befinden, seit die Globalisierung nicht mehr nur Kapitalströme mobilisiert - und in der sich jeder seiner selbst neu vergewissern muss.

Das geschieht bei den Mülheimer Theatertagen nicht nur auf der Bühne. Das Festival holt bemerkenswerte Produktionen von anderen Theatern der Republik in die Region, legt daneben aber viel Wert auf Gespräche über Theater und pflegt daher die Tradition der Publikumsgespräche. So verlagert sich in Mülheim regelmäßig ein großer Teil des Publikums nach den Vorstellungen in einen Nachbarsaal, um mit dem künstlerischen Team zu diskutieren. Und wenn am 26. Mai der Mülheimer Dramatikerpreis vergeben wird, tagt auch die Jury öffentlich, und jeder kann verfolgen, welche Maßstäbe die Kritiker anlegen. Reden über Theater ist eine Gattung für sich. Sie kann erhellend sein und unterhaltsam und trägt zur Selbstbesinnung der Kunstform bei. Ronens Stück etwa ist ein Beispiel für hochaktuelle Theaterkunst, die Gegenwart entlarvt und aufklärerisch spiegelt. Allerdings sind solche Stücke besonders zeitverhaftet und stark an die Darsteller gebunden. So kam im Publikumsgespräch folgerichtig die Frage auf, ob ein solches Stück von einer anderen Truppe übernommen werden könnte. Ob es also überhaupt ein Autorentext sei, für den es am Ende einen Dramatikerpreis geben könne. In der Tat besitzt Ronens Stück zwar hohe Relevanz für die Gegenwart und ist durch den Kniff, die Konflikte der Welt in ein Klassenzimmer zu drängen, geschickt arrangiert. Doch es spiegelt mehr satirisch, als dass es durchdringt, und hat nicht die Erkenntnistiefe eines bleibenden Textes. Da ringt etwa einer Jenny Erpenbeck in "Gehen, ging, gegangen", wenn auch in einem Roman, zum gleichen Thema um gewichtigere Gedanken.

Doch es ist ein großer Glücksfall, wenn solche Fragen nicht nur in Fachkreisen debattiert werden, sondern mit dem Publikum. Allerdings war am Eröffnungsabend in Mülheim auch zu erleben, wie solche Debatten misslingen können. Der Moderator nutzte die Gelegenheit zu einem längeren Monolog über seine Sicht auf die politische Lage in Flüchtlingseuropa, mehr gefühlig als erhellend. Ein junger Assistent vom Gorki-Theater hatte die schwierige Aufgabe, die teils brisanten Aussagen der Darsteller aus dem Englischen zu übersetzen, und war damit überfordert. Da spiegelten sich die gerade im Stück beschriebenen Verhältnisse fast komisch zurück in die Wirklichkeit. So hatte die Diskussion bei der Eröffnung zwar nicht das in Mülheim gewohnte Niveau, dafür war sie selbst Beleg für die Relevanz von Ronens Stück. Beim Publikum kam ihr Abend jedenfalls an. Und das war auch im vergangenen Jahr so. Da bekam Yael Ronen den Publikumspreis.

(dok)
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