Duisburg Don Giovanni im Hotel California

Duisburg · Karoline Gruber inszenierte, Friedemann Layer dirigierte die Premiere von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper "Don Giovanni" im Duisburger Haus der Deutschen Oper am Rhein. Die Inszenierung begibt sich als psychedelischer Albtraum.

Wo liegt die Welt des Don Giovanni? Wirklich in Spanien? Oder steht sein Schloss nicht überall, wo es Süchte und Sehnsüchte gibt, die einen überkommen wie Wolkenbrüche? Diesmal, in Duisburg, lebt der große Weiberheld in einer seltsamen Filiale jenes Hotel California, das einst die Eagles besangen: eine düstere Trutzburg der Sünde, surreal verbaut und alkoholisiert, in der Räume sich öffnen, neue Räume gebären und Ölgemälde plötzlich zu leben beginnen; ein Sarkophag des Eros, dessen Deckel sich nicht nur zur Mitternacht öffnet und verblichene Romanzen des Meisters ausspuckt, mumienhafte Frauen in Brautkleidern, verpuppt in ewiger Gefolgschaft. Dieses Hotel California des Don Giovanni verheißt Freiheit des Moments, charmante Exzesse und die Löschung der Moral. Die Zimmernummern auf sechs Türen des Hotels sind Jahreszahlen der bürgerlichen Befreiung: 1789 etwa oder 1848. Andersherum gilt: Wer einmal hier war, ist versaut fürs Leben.

Karoline Gruber inszeniert Mozarts Meisterwerk als einen Initiationsritus, der die beiden Neuankömmlinge Zerlina und Masetto, dieses entzückende, leicht erregbare Tölpelpaar, für die Enthemmung klarmacht. Sie begegnen einem Don Giovanni, der in der ersten Sekunde ein viriler Schmierlapp ist, in der nächsten ein diskreter Galan, in der übernächsten ein Kunstliebhaber, der Arnold Böcklins leicht geschürzte Kalypso verehrt (Bühne: Roy Spahn) – jedenfalls ein unberechenbarer und intensiver Typ, so ganz anders als die gescheitelten Bräutigame Don Ottavio (im Burschenschaftler-Habit) oder der memmenhafte Masetto (im Burlington-Pullover).

Am Ende werden alle berauscht sein und alte Bindungen gelöst haben, Don Giovanni krallt in ihrer Seele wie ein zärtlicher Parasit. Er muss nicht viel tun. Alle kommen zu ihm. Diese Abhängigkeit treibt wirre Blüten. Donna Elvira ist hysterisch, hält sich aber für strategisch und schnallt sich ein Schwangerschaftskissen vor den Bauch. Der Kerl fällt nicht drauf rein. Leporello, Giovannis Diener, leidet noch schlimmer, nämlich an Überdruss, und beginnt eine Karriere als Borderline-Fall: Er ritzt sich die Haut. Sie und alle anderen verdämmern am Ende in einem psychedelischen Albtraum, emotional vollgekokst von der Leichtigkeit des Seins. Da kann der Komtur als bischöflicher Bußprediger noch so dröhnend die Stimme heben: Don Giovanni ist zwar tot, lebt aber in aller Phantasie fort. Unsterblich, ein Mythos, für den manches Weib sogar im Abendkleid das Parkett schrubbt.

Das erzählt Karoline Gruber mit allergrößter Genauigkeit, einer Sorgfalt, die über Techniken des Libidinösen weit hinausgeht und die Frage diskutiert: Was sind Bindungen im Augenblick leichter oder schwerer Anfechtung wert? Oder auf welch lehmigem Boden der Konvention wurden sie erst eingegangen? Zwar sind Don Ottavio und Masetto als Schwächlinge gezeichnet, was die Fremdgänge von Donna Anna und Zerlina beinahe verzeihlich macht. Doch sind die Damen mitnichten Siegerinnen, sondern fröhliche Opfer. Sie tauschen die eine Abhängigkeit gegen eine andere. Das macht uns Gruber klar, und wie sie es anstellt, ist nicht nur zwingend, sondern auch dramatisch. Das Masken-Finale, wenn jeder jeden küsst, ist in seiner Theaterwucht hinreißend.

Mozart erzählt uns nicht von einem Wüstling, sondern von Projektionen der Frauen. Der ungebundene Held steht in der Mitte und schmeckt bloß die Damen ab, die für einen Konventionsbruch leicht zu haben sind und vom erzieherischen Trieb gesteuert werden, einen Unhold zu zivilisieren. Das bedeutet für die Partitur: Giovanni hat nicht so viel zu singen, da sind die Champagnerarie und die Serenade, aber nichts zum Brillieren. Laimonas Pautienius als Giovanni löst das Dilemma exzellent, mit leiser Gefährlichkeit, er ist kein Brüllaffe, sondern – trotz seines Zopfes und seines lasziven Gangs – ein geschmeidiger Baritonist, der mit wundervoller Stimme Wirkung kalkuliert, nicht erzwingt.

Es freut den belkantistischen Gerechtigkeitssinn des Zuhörers, dass er und die Donna Anna der Olesya Golovneva das heißeste Feuer dieses Abends entzünden. Ein Paar werden sie nie, obwohl die großartige Frau Golovneva ihr "Crudele? Ah no, mio bene! Non mi dir" als ihr schönstmögliches Geständnis an Giovanni gestaltet. Die Donna Elvira der Nataliya Kovalova ist häufig außer sich – und ihre Stimme ist es leider auch. Alma Sadé als Zerlina gibt schöne Ausblicke auf ihre Sopranzukunft. Auch der unauffällige Torben Jürgens als Masetto dürfte an größeren Aufgaben wachsen, und das Timbre von Adam Palka als Leporello vertrüge ein paar Farben mehr. Corby Welch weint sich – tenoral herrlich larmoyant – durch die Ottavio-Partie.

Von Friedemann Layer am Pult kann man sagen, er dirigiere mit unauffälliger Gründlichkeit. Man könnte aber auch sagen, er bewache die Partitur, statt sie zu erwecken. Die Wahrheit liegt in der Mitte, ist aber von Mozarts strömender Klangrede weit entfernt. Die Duisburger Philharmoniker klingen immer am besten, wenn sie sich beispielsweise mit ihren famosen Holzbläsern zur Freiheit aufschwingen und musikalisch schwingende Phrasen blasen.

Im Hintergrund sieht man sechs Türen, die Freiheit ankündigen und zur ewigen Dunkelheit im Gefängnis unerfüllter Liebe führen. Das erinnert uns an den Mythos vom Herzog Blaubart, dessen Geliebte das Geheimnis seiner sieben verriegelten Türen ergründen wollte und wie ihre Vorgängerinnen umkam. Bei Giovanni sind alle Türen im Hotel California unverschlossen. Man kommt und geht freiwillig, aber nie wird man es verlassen können.

(RP)
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