Teodor Currentzis Dionysos dirigiert

Der Grieche Teodor Currentzis ist unter den jungen Dirigenten von heute der radikalste. Längst arbeitet er an allen großen Häusern.

Es ist fast unmöglich, diesem griechischen Maestro zu entgehen. In den großen Opernhäusern tritt er wie der Star der Zukunft auf, im vergangenen Jahr dirigierte er "Rheingold" bei der Ruhrtriennale; seine Aufnahme des Mozart- "Requiems" mit dem russischen Alte-Musik-Ensemble MusicAeterna wird hoch gehandelt. In den Jahren von 2004 bis 2010 war Currentzis Chefdirigent in Nowosibirsk, dem größten Opernhaus in Sibirien. Dort gründete er MusicAeterna und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Seit 2011 ist er Musikdirektor des Opern- und Ballettheaters in Perm. Dazu ist er seit 2011 ständiger Gastdirigent des SWR Sinfonieorchesters. Wir haben den Künstler drei Mal in kurzer Folge erlebt.

Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Kairos-Preis:

Die 1200 Plätze des größten deutschen Sprechtheaters sind gefüllt mit illustren Gästen, die der Verleihung des Kairos-Preises an den Dirigenten Teodor Currentzis beiwohnen. Die Ehrung der Alfred Toepfer Stiftung ist mit 75.000 Euro einer der am höchsten dotierten Kulturpreise in Europa. In der Jury-Begründung heißt es, der Preis ehre Currentzis nicht nur als Ausnahmemusiker, sondern auch, "weil er sich genreübergreifend und kompromisslos den Zwängen des modernen Musikbetriebs widersetzt". Die Laudatio hält der amerikanische Regisseur Peter Sellars in Form eines imaginären Rundgangs durch die griechische Kultstätte Epidauros, um der Eigenart von Currentzis' geistiger Haltung auf die Spur zu kommen. Kunst und Leben, Kult und Heilung waren eins in Epidauros, doziert Sellars. Diese umfassende Spiritualität sei es auch, die Currentzis auszeichne. Als der mit seinen 44 Jahren immer noch schlaksig wirkende Currentzis - wie immer ganz in schwarz - die Bühne entert, um sich zu bedanken, ist er zu groß für das Pult und muss sich zum Mikro krümmen. Er bedankt sich mäandernd, redet von seinen Träumen, wirkt verlegen und gibt zu, das sei ein schwieriger Moment für ihn.

Mehrfach tritt an diesem Abend sein MusicAeterna-Chor auf und führt eindringlich für Ohren und Augen, was an Currentzis' Wirken so einzigartig ist: Das 20-köpfige Ensemble singt auswendig und macht Werke von Strawinsky und Schnittke zum unmittelbar existenziellen Ereignis. Es ist nicht allein die makellose Perfektion, die den Atem stocken lässt. Es ist die Intensität, die radikale Hingabe, die Currentzis seinen Musikern abverlangt.

Opernhaus Zürich, Verdis "Macbeth":

Regisseur Barrie Kosky zeigt ein grandios reduziertes Kammerspiel in einem schwarzen Tunnel und findet in Currentzis einen Bruder im Geiste, der jeden einzelnen Ton in den Dienst des dramatischen Bühnengeschehens stellt. Currentzis raut Verdis Partitur auf und entwickelt wie Kosky alles aus dem Nichts - nämlich aus einem gepressten, lauernden Piano, das jedes Forte umso brutaler klingen lässt. Auch die Sänger ermuntert er zu flüsterndem Sprechgesang, lässt Atemgeräusche, Seufzen und Stöhnen hörbar werden und entwickelt selbst große Kantilenen aus dem Duktus der Sprache. Currentzis radikalisiert nicht aus Mutwillen, sondern im Geiste Verdis, der sich jenen Mut zur Hässlichkeit ausdrücklich gewünscht hatte. Currentzis entdeckt gleichsam einen neuen "Macbeth". Gefährlicher, schwärzer, nihilistischer, als man ihn je hörte.

Kairos ist der Gott des rechten Augenblicks. Den Namen dieser griechischen Gottheit hat der Hamburger Preis der Toepfer-Stiftung sich deshalb gegeben, weil er im richtigen, im von Kairos gesegneten Moment vergeben werden soll an Menschen, die sich noch an der Schwelle von der großen Hoffnung zur Weltkarriere befinden. Man könnte meinen, dass Currentzis diese Schwelle schon überschritten hat, denn spätestens seit er 2014 den Echo-Preis für seine furiose Einspielung von Mozarts "Figaro" kassierte, ist er in aller Munde.

Mit der gleichen Berechtigung könnte man aber genauso gut auch behaupten, dass der Feuerkopf die Schwelle zur Weltkarriere wohl nie überschreiten wird. Denn Currentzis ist zwar berühmt, aber ein erklärter Feind der Spielregeln des globalisierten Musikbetriebs. Kein Jet-Setter, der nur für Endproben einfliegt und mit dem immer gleichen, gut polierten Kernrepertoire weiterzieht. Und Currentzis ist nicht gemacht für die üblichen Produktions-Routinen mit ihren festgelegten, knapp bemessenen Probenzeiten. Wie um das zu unterstreichen, hat er gerade eben seinen Vertrag als Musikdirektor am russischen Opern- und Ballett-Theater Perm um fünf Jahre verlängert.

Opernhaus Perm, Mahlers 5. Symphonie:

Ein Kulturpalast im Stalin-Zuckerbäckerstil. Im bröckelnden Treppenhaus toben kleine russische Ballerinen mit roten Schleifchen im Haar. Im zweiten Stock ein abgenutzter Handball-Saal mit Neonlicht. Hier trifft sich Currentzis' Orchester MusicAeterna zur ersten Probe von Mahlers Fünfter. Das groß besetzte Ensemble muss ausweichen, denn das Opernhaus platzt während des alljährlich stattfindenden Diaghilev-Festivals aus allen Nähten. In der Probenpause herrscht ein babylonisches Sprachgewirr, denn bei MusicAeterna treffen sich Musiker aus Paris, Köln, Moskau und Madrid. Die Atmosphäre ist familiär, fast intim, Körperkontakt ausdrücklich erwünscht. In Perm ist Leben und Arbeiten eins. Man munkelt, dass so manche Probe in dionysischen Festgelagen mündet.

Ausgerechnet in Perm, in einer Stadt, aus der alle immer nur wegwollten. Anton Tschechow diente sie zum Vorbild der langweiligen Garnisonsstadt im Osten, in der sich seine drei Schwestern verzweifelt nach Moskau sehnen. Literaturnobelpreisträger Pasternak dagegen beschrieb in "Doktor Schiwago" Perm alias "Juratin" als Zufluchtsort für die verfolgte Moskauer Intelligenz. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Perm als strategisch wichtiger Rüstungsstandort eine geschlossene Stadt, in der die Intellektuellen ein subversives Eigenleben führten.

Auch deshalb, weil es in Perm ein ambitioniertes Kulturprogramm gab, das Forscher und Waffeningenieure bei Laune halten sollte. Vor den Toren der Stadt lagen die berüchtigten Gulags. Bis heute erzählt man sich, es gebe in Perm nur zwei Sorten von Menschen: ehemalige Gefangene und deren Wärter.

Currentzis schafft es, Spitzenmusiker aus der ganzen Welt in diese raue Stadt im Ural weit östlich von Moskau zu locken. Die altertümliche Tram rumpelt durch die sich lang an der Kama hinziehende Stadt, vorbei an bröselnder Pracht, großspuriger Sowjet-Architektur und gleichgültiger Verwahrlosung.

Im schmucken Opernhaus empfängt Currentzis in seinem Dienstzimmer, das eher an eine Filmkulisse für eine Dorian-Gray-Verfilmung als an ein Büro erinnert: An den Wänden hängen ornamentale Seidentapeten, schwere Samtvorhänge sperren die Helligkeit des sibirischen Frühsommers aus, auf dem üppigen Sofa versinkt man in plüschigen Kissen und einer mit Blumen bestickten Decke.

Der offensive Plüsch erinnert daran, dass die Grenze zu Asien ganz nah ist. In diesem Salon residiert kein smarter Orchester-Chef, sondern ein exzentrischer Künstler, der sich selbst inszeniert als Mischung aus Dandy und Rebell. Sein Englisch klingt weich, er lümmelt entspannt, fast lasziv in den Kissen, und in den Augen flackert immer wieder ein beunruhigendes Glühen auf.

Für Currentzis ist Russland ein Land mit Möglichkeiten: "Wir haben viele Schwierigkeiten hier, aber ich könnte mir meine Entwicklung in einem anderen Land so nicht vorstellen. Die Kommunikation zwischen Menschen ist für mich anderswo zu artifiziell, zu geregelt. Hier ist es einfacher, realer!"

Das bedeutet auch, dass Currentzis hier jenseits von Tarifverträgen die Arbeit nach seiner Fasson gestalten kann: "Ich bin hier, weil ich ein Exil brauche, um neue Regeln zu definieren. Ich möchte mit Musikern arbeiten, die hierhin kommen, weil sie mit mir arbeiten wollen. Hier ist ja sonst nichts."

Currentzis redet viel von Anarchie und liebt poetische Vergleiche, wenn er Perm als Pendant zum heiligen Berg Athos bezeichnet und sich selbst als Abt und Ersten unter Gleichen. Seine Musiker schieben keine Dienste, denn in Perm werden Proben kurzfristig geplant, und es wird so lange gefeilt, bis alles stimmt. Probenarbeit ist in Perm kein Dienst, sondern ein anarchistisch wuchernder Prozess. Der sich mitunter auf einer Datscha mit spontanen Sessions fortsetzt.

Currentzis ist Neu-Russe aus Überzeugung. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er eine Affinität sieht zwischen Griechen und Russen: "Beide Länder haben vieles gemeinsam. Die guten und die schlechten Seiten sind sehr ähnlich. Ich war sofort fasziniert von der Spiritualität in Russland. Die Menschen hier haben eine völlig andere Art, sich der Realität zu nähern als die Menschen im Westen. Ich liebe das, denn das ist einzigartig. Die russische Seele, die gibt es wirklich."

(RP)
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