"Hidden Tracks" Die verborgenen Juwelen der Popmusik

Unter Hidden Tracks versteht man Lieder, die Künstler auf ihren Alben versteckt haben. Diese Songs werden auf der Plattenhülle nicht genannt und überraschen die Fans zumeist am Ende einer LP oder CD. Mit den Beatles fing das alles an. Eine kleine Kulturgeschichte des akustischen Mauerblümchens.

"Hidden Tracks": Die verborgenen Juwelen der Popmusik
Foto: Ferl

Erfunden haben es, na klar, die Beatles - und zwar am 30. Juli 1969. Damals saßen die Fab Four gemeinsam im Studio, draußen war Sommer und drinnen miese Stimmung. John dachte an Yoko, George an Indien, Ringo an gar nichts und Paul an die nächste Platte. Die sollte "Abbey Road" heißen und ein Stück populäre Avantgarde werden, ambitionierter Erwachsenen-Pop. Über die zweite LP-Seite sollte sich ein Medley erstrecken, und genau dieses Medley spielte der Tontechniker nun vor.

Es klang ganz gut, fand Paul, er hatte lange an der Liedfolge herumgebastelt, einen Song ließ er sogar herausschneiden, weil er ihm nicht mehr gefiel. "Her Majesty" hieß das Lied, eine charmante Akustik-Miniatur, die der Techniker allerdings nicht wie von Sir Paul verlangt in den Müll warf, sondern aufbewahrte. Niemand, meinte er nämlich, dürfe etwas von den Beatles Geschaffenes vernichten, nicht mal die Beatles selbst. Da er aber auf die Schnelle nicht wusste, wohin mit dem knapp 30-sekündigen Schnipsel, klebte er ihn einfach hinten an die "Abbey Road"-Tonbandspule - und vergaß ihn dort. Genau diese Spule hörte sich Paul McCartney an jenem Tag also an, und als der letzte Ton des letzten Liedes verklungen war, nickte er: Daumen hoch, gute Platte. Es dauerte etwa 14 Sekunden, dann erschrak er sehr, denn plötzlich begann ohne Ankündigung das vergessene Lied: "Her Majesty". Ein Überraschungseffekt, großes Fragezeichen, damit hatte keiner gerechnet. Alle waren nun hellwach und voll da, und der Tontechniker, der sich schon auf einen Tadel vorbereitete, wunderte sich sehr. Toll, sagte Paul nämlich, das lassen wir genau so. "Echt?" - "Ja!" Die Beatles hatten gerade den ersten Hidden Track der Musikgeschichte untergebracht.

Hidden Tracks sind die Staatenlosen der Popkultur. Der Begriff bezeichnet Lieder, die auf LPs und CDs geschmuggelt werden, auf dem Cover oder im Booklet aber nicht vermerkt sind. "Her Majesty" tauchte denn auch ursprünglich nicht auf der LP-Hülle auf. Nichts beglaubigt die Existenz der Hidden Tracks, sie haben keine Aufenthaltserlaubnis, auf Tonträgern fahren sie als blinde Passagiere mit.

Die Idee, eine Komposition zu verstecken, haben viele Künstler übernommen. Zumeist gibt es nach dem letzten Stück eine Pause, und danach beginnt die akustische Dreingabe. Nun muss man sagen, dass viele Hidden Tracks, die bisweilen auch Ghosttracks oder Easter Eggs genannt werden, mehr Ach und Krach sind als Saus und Braus; Mauerblümchen statt Zuchtrose. Anders gesagt: "She Loves You" oder "Yesterday" hätten die Beatles sicher nicht versteckt. Hidden Tracks sind als Augenzwinkern gemeint. Im besten Fall sind sie ein zarter Akt der Rebellion, die Kreativität besiegt die Form. Der Künstler sagt: Das hier ist ein Kunstwerk, kein Produkt. Sein Schöpfer ist ein autonomes Genie, das der Ordnung die Show stiehlt. Der Fan freut sich über den Mehrwert, er wird dafür belohnt, dass er bis zum Ende drangeblieben ist. Er wird vom Künstler sozusagen persönlich per Handschlag verabschiedet, und außerdem bekommt er als CD-Käufer ordentlich "Bang for the Buck", wie die Amerikaner sagen.

Es gibt auch ganz großartige Hidden Tracks, das Lied "Train In Vain" von The Clash etwa. Das findet man am Ende der Doppel-LP "London Calling" (1979). Das Cover führt das Stück nicht auf - die Hüllen waren bereits gedruckt, als die Band beschloss, es auf das Album zu nehmen. Es hatte eigentlich als exklusive Zugabe zur Zeitschrift "New Musical Express" erscheinen sollen, aber der Deal platzte in letzter Sekunde, und man wollte das Lied nicht einfach liegen lassen. Gute Entscheidung, denn "Train In Vain" erschien auch als Single und erreichte in den USA die Top 30. Zum ersten Mal war ein Hidden Track zum Hit geworden.

Mit dem Aufkommen der CD gab es neue technische Möglichkeiten, Lieder zu verstecken. So kann man vor den Eröffnungssong einer CD ein Stück packen, das man ansteuert, indem man das erste Lied beginnen lässt und dann vor den Anfang zurückspult. Man erreicht auf diesem Weg Lied 0 - wobei das nicht bei allen CD-Playern gelingt. Die meisten Künstler bleiben indes beim herkömmlichen Verfahren: der Appendix am letzten Song.

Manchmal öffnen die versteckten Lieder ein Fenster in den Innenhof des Band-Alltags. Die Stücke sind oft weniger aufwendig produziert, bleiben unbearbeitete Skizzen. Green Day etwa versteckten auf dem Album "Dookie" (1994) ein Lied über die Onanie, es heißt sehr treffend "All By Myself". Und die Band Beach House, bekannt für verträumten Gitarrenpop, bietet auf ihrem Album "Bloom" (2012) nach sieben Minuten Stille ein Konzentrat ihres Werkes, ein Stück, das sich anhört wie ein Tag am Meer.

Einen der größten Hidden Tracks der Musikgeschichte findet man auf "Nevermind" von Nirvana. Wer die Platte aus dem Jahr 1991 gehört hat und nach dem letzten Lied denkt, jetzt habe er es hinter sich und vielleicht duschen geht, um sich den Zorn, die Wut und Verzweiflung abzuwaschen, die Kurt Cobain da ausgespuckt hat, wird verblüfft sein, wenn er ins Zimmer zurückkehrt. Nach zehn Minuten Stille legen Nirvana nämlich "Endless, Nameless" nach, ein Lied, bei dem die Gitarren bluten. Es scheppert und lärmt wie ein Panzer, und diese Schredderperformance ist Nihilismus total und darf als Quintessenz all dessen gelten, wofür diese Gruppe steht.

Zwei Hidden Tracks gibt es, die so gut waren, dass sie den prekären Verhältnissen im Hell's Kitchen des Album-Randgebiets entkommen konnten und fortan Downtown in der Beletage residieren durften. Der eine ist "Can't Take My Eyes Off You" von Lauryn Hill. Die Sängerin der Fugees hatte auf ihrem Soloalbum "The Miseducation" (1998) zwei Hidden Tracks verstaut, und dieser - eine Coverversion des unverwüstlichen Frankie-Valli-Songs - wurde sogar für den Grammy nominiert. Und: Janet Jackson veröffentlichte den Ohrwurm "Whoops Now", den sie eigentlich auf ihrer Platte "Janet" (1993) versteckt hatte, als Single, die Platz acht in den US-Charts erreichte.

Seit Alben gestreamt werden, gibt es kaum noch Hidden Tracks. Lieder, die sich auf früheren Platten verbargen, werden ans Licht gezerrt, namentlich genannt und sind einzeln anzusteuern. Hörer werden also für ihre Geduld nicht mehr belohnt, Überraschungen gibt es nicht mehr. Nur die Band Bloc Party bildet eine Ausnahme. Das letzte Stück des Albums "Silent Alarm" (2005) ist auch in der Version bei Apple Music auffallend lang. Der Grund: Nach einigen Minuten Stille beginnt das nirgendwo genannte Lied "Every Time Is The Last Time".

Paul McCartney hat den ersten Hidden Track der Popgeschichte übrigens Jahrzehnte später noch einmal hervorgekramt. Er spielte "Her Majesty" 2002 zum Goldenen Thronjubiläum der Queen im Buckingham Palace. "Her Majesty's a pretty nice girl / Someday I'm gonna make her mine", sang er also.

Die Queen zeigte keine Regung. Aber insgeheim soll sie es sehr genossen haben.

(hols)
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