Amsterdam/Delft Die Bibliothek der Zukunft

Amsterdam/Delft · Wo Bibliotheken aussehen wie Luxushotels und Oasen der Ruhe sind - ein Besuch in Belgien und den Niederlanden.

 An der niederländischen Uni TU Delft setzt man auf E-Books. Die Bücherwand ist "lebende Deko".

An der niederländischen Uni TU Delft setzt man auf E-Books. Die Bücherwand ist "lebende Deko".

Foto: Flickr

In dieser Amsterdamer Bibliothek denkt man unweigerlich an René Magritte. Schon in den späten 20er Jahren versuchte uns der belgische Surrealist mit dem "Verrat der Bilder" hinters Licht zu führen: Er malte eine Pfeife, schrieb darunter aber den Satz: "Ceci n'est pas une pipe" ("Das ist keine Pfeife"). Ähnliches denkt der Besucher in der Openbare Bibliotheek Amsterdam (OBA) und glaubt es nicht, dass das hier eine Bibliothek sein soll: In die sieben Etagen gleiten sanft die Rolltreppen. Warme Lichtkonstruktionen hängen an den Decken oder strahlen warm aus aufgeräumten Bücherregalen.

Massivholz und Chaiselongues haben die Architekten für die Lernplätze ausgesucht. Mit den Neonröhren und muffigen Teppichböden, die noch immer in den meisten deutschen Stadtbibliotheken zu finden sind, hat das hier wahrlich nichts gemein. "Ceci n'est pas une bibliothèque", das ist keine Bibliothek, denkt man. Dieser Ort ist für die Studierenden, Kinder und Geflüchteten, die an den Lernplätzen sitzen, lernen oder fläzen, vielmehr eine Art dritter Ort - gleich nach dem Zuhause und dem Arbeitsplatz.

Alles hier lädt dazu ein, sich ein Buch zu nehmen und einfach eine Stunde in dieser Oase der Ruhe zu verbringen. Oder gleich einen ganzen Tag? Warum eigentlich nicht, sind auf den sieben Etagen doch nicht nur 1,2 Millionen Bücher, 130.000 audio-visuelle Medien und 10.000 E-Books zu finden. Auch Restaurant, Theatersaal und Kino gibt es. Die Openbare Bibliotheek wirkt wie ein Designer-Hotel. Neue Computer und hunderte Lernplätze - und sogar ein stilles Klavier steht da. Wer sich auf die Aussichtsplattform im siebten Stock begibt und auf das Wasser schaut, glaubt sich auf einem Luxus-Dampfer, der jeden Moment den Anker hebt und die Amstel entlang schippert - mit bester Reiselektüre an Bord.

 Die Openbare Bibliotheek Amsterdam hat eine hochwertige Ausstattung.

Die Openbare Bibliotheek Amsterdam hat eine hochwertige Ausstattung.

Foto: imago stock&people

Die OBA ist ein Erfolgsbeispiel der fünf Kernfunktionen Öffentlicher Bibliotheken in den Niederlanden, die das Bibliotheksgesetz von Anfang 2015 definiert: Wissen zugänglich machen, Lernen erleichtern, das Lesen sowie Kunst und Kultur zu fördern und gesellschaftliche Begegnung zu organisieren. Die Finanzierung ist hauptsächlich Aufgabe der Stadtgemeinden. Mehr als 3,5 Millionen Besucher kommen jährlich in die Openbare Bibliotheek. Jeder fünfte Amsterdamer ist Mitglied. Pro Jahr kostet das 32 Euro, doch für Flüchtlinge sind Mitgliedschaft, Lern- und Sprachkurse kostenlos. Innovative Lernkonzepte stehen vor allem für eine Idee: "Wir inspirieren die Menschen dazu weiterzulernen", sagt Geschäftsführer Martin Berendse. Die Mission bis 2019: weiter modernisieren.

Lange Öffnungszeiten fast rund um die Uhr machen es möglich, dass Bibliotheken eine Art zweites Zuhause sind. Die Trendwende - weg von der Bibliothek als reinem Ort des Lernens und Lesens hin zu einem multifunktionalen "Ort der Zusammenkunft" - ist auch in Belgien eingeleitet. In Antwerpen oder Brüssel haben die kulturellen Einrichtungen Demographie, Integration und Digitalisierung als Aufgabe angenommen. Die Idee digitaler Angebote treibt die niederländische TU Delft auf die Spitze.

Dass die Bibliothek von außen eine architektonische Meisterleistung ist, ist nicht zu bestreiten. Ihr Seitenschiff sieht aus wie ein aufgeschlagenes Buch. Ihre weiße, spitze Kuppel ragt aus einem Grashügel heraus. Noch erstaunlicher ist, was Projektleiterin Liesbet Mantel zum Konzept sagt: Seit 1990 werden keine neuen Bücher mehr gekauft. Das macht die atemberaubende Bücherwand in der Eingangshalle zum toten Element. Mantel spricht euphemistisch von "lebender Dekoration". Die niederländischen Studenten und Wissenschaftler lernen hier mit E-Books. Und die Mitarbeiter haben keine Büros, selbst die Direktorin räumt am Nachmittag ihren Arbeitsplatz und stellt ihn den Lernenden zur Verfügung. Keine Hierarchien, dafür die optimale Raumnutzung, denn "Quadratmeter sind teuer", sagt Mantel. "Wenn ich wirklich arbeiten muss, dann gehe ich heim." Die Flexibilität zeigt sich darin, dass die Räumlichkeiten offen für Veranstaltungen sind. Regelmäßig ist die Delfter Bibliothek Schauplatz von Messen, denn die Wände sind mobil. All diese Ideen beruhen auf Innovationslust und Empirie. Die Umfrage, was Studierenden wichtig sei, nahm man ernst. So ist der Wunsch nach "gutem Kaffee" mit einem integrierten Café gelöst worden. An Kaffee-Automaten gibt es die günstigere Alternative. "Die Studenten schätzen das, darum halten sie die Bibliothek sauber", sagt Mantel.

An den Unglauben, dass das doch keine Bibliotheken mehr sind, schließt sich sogleich eine Frage an: Wann endlich weichen 80er-Jahre-Muff, klebrige Eselsohren und Plastikstühle auch aus Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland? 8228 gibt es in Deutschland, mehr als 95 Prozent davon sind öffentlich. Ob die mit öffentlichen Mitteln finanzierten Bibliotheken tatsächlich mehr sein sollten als Bibliotheken, also Orte der Bücher und des Lernens, ist das andere. "Bibliotheken sind ein öffentlicher Raum der Miteinanders", sagt Marianne Vogt, Direktorin der Stadtbibliothek Köln.

Die Bibliothek wird 2017 saniert - und hat so die Chance, ein Leuchtturm in NRW zu werden.

(ball)
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