Düsseldorf Die Loren der Loreley

Düsseldorf · Dietrich Hilsdorf inszenierte, Axel Kober dirigierte Richard Wagners "Rheingold" im Düsseldorfer Haus der Deutschen Oper am Rhein.

Zu den herrlich absurden Zügen vieler Opern gehört es, dass die Luft mehr als knapp ist und trotzdem kein Sänger unters Sauerstoffzelt muss. Monteverdis "Orfeo" spielt in der Unterwelt, Janáeks "Brouek" auf dem Mond. Auch der Beginn von Wagners "Rheingold" ist für den singenden Homo sapiens schwierig, er befindet sich "auf dem Grunde des Rheines". Regisseure müssen also entweder die Illusionsmaschine ankurbeln, die DLRG einschalten oder einen Transfer ans Tageslicht organisieren, nach dem Motto: "Scotty, beam me up!"

Auch Dietrich Hilsdorf hat für das neue Düsseldorfer "Rheingold" nach einem aufsteigenden Ast gesucht, der die Rheintöchter in singbare Zonen befördert. Er hat an die berühmteste Rheintochter, die Loreley, gedacht; zudem hat er sich die vielen Taschenspieler- und Verwandlungstricks dieser Oper vorgestellt - und flugs befinden wir uns in einem verlebten Varieté, einem bürgerlichen Zirkussalon des 19. Jahrhunderts, der Ausflügler bespaßt, irgendwo zwischen St. Goar und Montmartre.

Aufdringliche Lampen leuchten auf einem Bühnenportal in Regenbogenfarben; die Besucher, meistens aus dem Göttermilieu mit etwas zu großen Hüten, bevorzugen Wein aus nahen Steillagen. Dieter Richter, der Bühnenbildner, hat sich in diese Kaschemme mit ihren Tabledance-Tischen, ihrer knarrenden Metalltreppe und ihrem öden Liebreiz so verliebt, dass sie uns in weiteren Gefilden des Abends erhalten bleibt. Es gibt keine Verwandlung, keinen Umbau, keinen Grand Départ, keine Schwefelkluft. Um zu Alberich zu gelangen, klettern Wotan und Loge unter einen Tisch und hoffen, dass wir ihnen das als Abreise, als Einstieg in die vertikale Durchreiche, abkaufen.

Damit die virtuelle Anmut des Wassers nicht verloren geht, sind die Kostüme der Rheintöchter in Wasserfarben gehalten, was sie umso mehr als Schlingpflanzen erscheinen lässt. Was will man bei diesen leicht bekleideten Damen suchen, wenn nicht Liebe? Gold? Oder doch eher die Tageseinnahmen? Im Hinterzimmer findet Alberich indes Dokumente für die Schürfrechte an einer Goldmine. Vom Raub eines Edelmetalls sehen wir nichts.

Den Halbgott Loge weist Hilsdorf als den Strippenzieher, als Zuhälter des Systems aus, als Parasiten, der - Küsschen hier, Gläschen da - alle pflegt, die er aussaugt. Freilich hat der Mann keine ernsthaften Konkurrenten. Den etwas depperten Alberich bringt er mit einer Augenbinde in den Puff. Die Götter sind derangiert und befinden sich in depressiver Stimmung, allen voran Wotan. Er ist ein Mann ohne Eigenschaften, ein blasser Angestellter seiner Macht. Sein einziges Markenzeichen ist Plumpheit; dem Alberich hackt er, um an den Ring zu gelangen, die Hand ab, so dass ein blutiger, nach einem Chirurgen schreiender Stumpf zurückbleibt. Kein Wunder, dass auch Fricka, Wotans Gattin, gern ein Gläschen nimmt.

Wir können uns den Abend leider nicht schön trinken. Die Inszenierung bleibt auf der Stufe des Mittelmäßigen, leicht Redseligen hängen. Fortwährend sind Appetizer zu erleben, die keiner braucht. Warum etwa wird Wotan von Fricka im Rollstuhl, mit Tuch über dem Kopf, hereingeschoben, wenn er doch zwei Minuten später ohne Pflegekraft aufsteht und umherläuft? Wenn es ein Verweis auf Hinfälligkeit und Dämmerung sein soll, dann ist es einer mit dem Donnerhammer.

Apropos Donner: Gelegentlich gibt es Getöse. Wenn die Seitenmauer wie von einer Abrissbirne getroffen wird und plötzlich prall gefüllte Loren aus dem Bergwerk durch den Salon rollen. Oder wenn Alberich sich in einen Riesenwurm verwandelt: Dann bricht die Decke auf, und eine Tatze aus dem "Jurassic Park" sorgt für allenfalls dezente Heiterkeit. Die Kröte hernach fällt sozusagen unter den Tisch.

Für diese Leute entwickelt man wenig Interesse, sie sagen einem nichts. Regisseur Hilsdorf ahnt das, also bürdet er ihnen bedeutungsvolle Fremdeigenschaften vom Dramaturgen-Schreibtisch auf. Alberichs Buckel: eine Judenkarikatur? Freias Knutschverhältnis mit Fasolt: das Stockholm-Syndrom? Wotans Frauenperücke: ein Ödipus-Komplex nach Besuch der Übermutter Erda? Nur die beiden Riesen gewinnen ein charakterliches Eigenleben, eine Art seelische Motivation: zwei redliche Handwerker in zunftüblicher Montur (Schlaghosen), mit realistischer Gewinnorientierung und einer Herzenssprache, die leider am Ende durch den Brudermord vergiftet wird.

Dass wir diesem "Rheingold" verwirrt zuschauen, wird uns von Loge vor dem allerersten Ton souffliert. Er tritt vor den Vorhang und raunt Heines Loreley-Beginn "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten!" Als er das Wörtchen "Es" wiederholt, ist es gleich banal klar: Es? Heureka: Er meint Es-Dur, den Beginn des "Rheingold", das Erwachen der Welt aus dem Nichts in einem einzigen Ton, dessen Dreiklänge sich alsbald wie Algen um alles winden. Wer diesen mythischen Anfang zerquatschen lässt, will offenbar um alles in der Welt nachweisen, dass er Noten lesen kann.

Aber die Noten, ja die Noten: Die werden nun wirklich so grandios betreut, dass man jene Leute im Publikum beneidet, die mit geschlossenen Augen dasitzen dürfen und nichts als herrliche Stimmen vernehmen. Etwa Simon Neals saftigen, wahrhaft herrschaftlichen Wotan. Michael Kraus' getriebenen Alberich. Die Rheintöchter Anke Krabbe, Maria Kataeva und Ramona Zaharia, die fabelhaft harmonieren und in ihren Cancan-Rüschenröcken als nächste Topmodelle reüssieren können. Renée Morlocs vielschichtige Fricka. Bogdan Talos' aufrichtigen Fasolt. Ovidiu Purcels strahlenden Froh. Susan Macleans düstere Erda. Und natürlich Norbert Ernsts schillernden Loge.

Ein großer Tag auch bei den Düsseldorfer Symphonikern. Die Hörner verströmen Majestät. Das schwere Blech bereitet herrliches Unbehagen. Die Holzbläser polieren die lyrischen Momente. Die Streicher wogen und wallen, dass der olle Richard davon schwärmen könnte wie damals in La Spezia, als ihm der "Rheingold"-Beginn als Albdrücken erstmals erschien. Und GMD Axel Kober am Pult weiß alles aufs Feinste zu gliedern, zu begleiten, zu befeuern.

Musikalisch herrscht das Niveau des Grünen Hügels. Die Bühne dagegen ist allenfalls ein Petit Départ in den "Ring". Inständig hoffen wir auf die nächste Etappe: Es geht zum Walkürenfelsen. Bergwertung.

(w.g.)
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