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Erster Weltkrieg Die Hölle von Verdun

Vor 100 Jahren begann die berüchtigtste Schlacht des Ersten Weltkriegs - deutsches Trauma und französischer Mythos. Verdun bündelt vier Jahre Kriegserfahrung in acht Monaten.

Die meisten der Statuen, Stelen und Steine in den grünen Hügeln der Argonnen rund um Verdun strahlen das Gepränge der 20er Jahre aus: schreitende Löwen, verwundete Löwen, wachende Soldaten, ein monströses Beinhaus in Form einer Granate oder eines Schwertgriffs, die Sichtweisen gehen auseinander. Ein Denkmal aber sticht heraus: jenes auf der Höhe "Toter Mann", die in der Schlacht, die morgen vor 100 Jahren begann, besonders heftig umkämpft war. Über dem Satz "Sie sind nicht durchgekommen" steht, in Fahnen gehüllt, ein Skelett. Der Triumph des Todes - ein passendes Sinnbild für Verdun.

Am 21. Februar 1916 morgens um 7.12 Uhr feuert eine deutsche Batterie aus 22 Kilometer Entfernung eine erste 38-Zentimeter-Granate auf die Festungsstadt an der Maas. Am 20. Dezember, nach acht Monaten der Schlächterei, sind Hunderttausende deutsche und französische Soldaten tot. Der militärische Hergang ist schnell erzählt: Das kaiserliche Heer sucht 1916 im Westen die Entscheidung, und zwar nicht am schwächsten, sondern am stärksten Punkt der feindlichen Front. Man will die Franzosen in eine Abnutzungsschlacht mit derart horrenden Verlusten verwickeln, dass sie zusammenbrechen. Nach Anfangserfolgen - die Deutschen erobern das wichtige Fort Douaumont - bleibt die Offensive stecken. Die Franzosen halten stand.

Doch ist das alles zu wenig, um Verdun zu verstehen. Verdun ist nicht nur der Inbegriff des Ersten Weltkriegs für Deutsche und Franzosen. Verdun ist der Weltkrieg, ein kleiner Krieg im Großen Krieg, vier Jahre in acht Monate gepresst.

Schon der Beginn: Wie 1914 stürmen die Deutschen mit Hurra voran, wie 1914 gelingen ihnen tiefe Einbrüche. Wie 1914 verbreitet sich Euphorie - an der Front eine Art Rausch, den Sieg schon vor Augen zu haben, in der Heimat die Hoffnung auf Frieden nach 19 Monaten Krieg. Wie 1914 ist es ein Schock, als sich der Angriff festläuft.

Verdun erweist so schmerzlich wie wenige andere Schlachten die Überlegenheit der Defensive über die Offensive im Ersten Weltkrieg. Die Erfahrung machen später auch die Briten an der Somme und die Franzosen am Chemin des Dames - stets sind die Verluste des Gegners gigantisch, die eigenen aber auch. Generalstabschef Erich von Falkenhayn glaubt gar nicht an einen Durchbruch in Verdun. Er will Frankreich "weißbluten" - was daran scheitert, dass die Deutschen mitbluten. Die Deutschen scheitern allerdings, ähnlich wie 1914 und erneut 1918, nur knapp.

Typisch für den Ersten Weltkrieg ist auch die Technisierung und Entmenschlichung. Zu erleben ist eine groteske Ungleichzeitigkeit - der Düsseldorfer Historiker Gerd Krumeich nennt es eine "Kombination aus modernster Fernartillerie und archaischsten Formen des gegenseitigen Tothauens". Für seinen Freiburger Kollegen Jörn Leonhard markiert 1916, das Jahr von Verdun, einen Paradigmenwechsel von der Durchbruchs- zur Abnutzungsschlacht; Folge sei ein "Kult des Zählens, der Messbarkeit, der Quantifizierbarkeit" gewesen - nicht zuletzt, was die Vernichtungseffizienz betrifft: Krieg als Tötungswettbewerb. Die Gewalt des stundenlangen deutschen Trommelfeuers, das dem Angriff am 21. Februar vorausgeht, war zuvor unbekannt. Eine Million Granaten werden allein an diesem Tag abgefeuert.

Apropos unvorstellbar: Auch darin ist Verdun ein Kondensat des Krieges. Es wird am Ende schlimmer, viel schlimmer, als man sich anfangs auch nur ausmalen konnte. 1914/18 ist eine Geschichte der Eskalation - politisch, weil man es überhaupt auf Krieg als vermeintliche Lösung ankommen lässt; militärisch, weil die Generäle vor allem der Briten, Franzosen und Russen lange nichts anderes kennen als den Frontalangriff, was die Verluste in unerträgliche Höhen treibt; schließlich psychologisch, weil, je länger das Töten dauert, ein Kompromiss als unmöglich, ja als pietätlos gegenüber den Gefallenen erscheint.

Auch nach Verdun kennt der Krieg noch eine Eskalation - am 1. Juli 1916, dem ersten Tag der Schlacht an der Somme in Nordfrankreich, verlieren die Briten 60.000 Mann. Es ist der blutigste Tag ihrer Militärgeschichte. Massiv gehungert wird in Deutschland erst nach Verdun, im berüchtigten Steckrübenwinter. Zum Weltkrieg wird der Krieg erst 1917 mit dem Kriegseintritt der USA. Und dass ein Frieden nicht notwendigerweise, wie in Europa über Jahrhunderte eingeübt, eine gesichtswahrende Verständigung ist - das exerzieren 1918 erst die Deutschen im Umgang mit den Russen vor; die Alliierten machen es 1919 in Versailles nach.

Vor 1916 war Verdun nur eine Stadt, oft belagert und stets umstritten zwischen Deutschen und Franzosen. Seit 1916 ist Verdun ein Symbol, für ruhmreiches Aushalten in der Hölle für die Franzosen, für das Trauma des Verheiztwerdens in Deutschland. Im November 1942 sagt Adolf Hitler im Münchner Löwenbräukeller, er habe Stalingrad nur deshalb noch nicht im Großangriff nehmen lassen, "weil ich kein zweites Verdun machen will". Am Ende macht er an der Wolga ein doppeltes und dreifaches Verdun.

1984 erst, 68 Jahre nach der Schlacht, reichen sich in Verdun Frankreichs Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl die Hände. Es ist einer der großen Momente der Nachkriegsgeschichte, wie Adenauer und de Gaulle in Reims, wie Brandt in Warschau. Es hat aber eben auch sieben Jahrzehnte gedauert, bis eine solche Geste möglich geworden ist. Sie war vermutlich nur in Verdun möglich, denn hier haben ausschließlich Deutsche und Franzosen gekämpft.

Die Argonnen sind heute längst nicht mehr die apokalyptische Kriegswüste von 1916, sondern wieder sattgrünes Mittelgebirge - und eine Art riesiger Themenpark für Schlachtenbummler. Die pompösen Denkmäler sind für die meisten Touristen wenig mehr als Gedenkfolklore, die Ruinen der Forts ein historischer Klettergarten. Wer aber genau hinschaut, der kann die Bombentrichter unter dem Rasen noch erkennen. Zwei Drittel der Toten von Verdun wurden nie beerdigt.

(fvo)
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