Köln Hymne gegen Fremdenhass

Köln · "Schrei nach Liebe" macht Farin Urlaub zum einflussreichsten Popstar im Land. Eine Begegnung mit dem Kopf der Band Die Ärzte.

Die Ärzte - Party auf Deutschland-Tour
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Farin Urlaub ist so mitreißend energiegeladen, dass man sich nach dem kräftigen Begrüßungshandschlag vorübergehend in der Lage wähnt, "Faust 3" schreiben zu können. Der fast zwei Meter große Musiker strahlt, die Augen funkeln. Er hört sich Fragen nur unter großer Anspannung und aus Menschenfreundlichkeit zu Ende an, dann reißt er sie einem förmlich aus dem Mund. Jetzt lehnt er sich noch zurück im Sofa der Suite hoch oben im Hotel Hyatt-Regency in Köln, gleich schon rückt er ganz nach vorn an die Kante. Da brennt einer.

Farin Urlaub wurde vor 51 Jahren als Jan Vetter in West-Berlin geboren, und seit er von einer Klassenfahrt nach London mit rotem Haar zurückkehrte, ist er Punk. Er ist Sänger und Texter der Band Die Ärzte, und er ist zurzeit Deutschlands einflussreichster Popstar. Am Wochenende versammelten sich Menschen in fast jeder größeren Stadt zwischen Berlin und Münster, um gemeinsam Urlaubs Lied "Schrei nach Liebe" zu singen. Vor 22 Jahren war der Titel schon mal ein Hit, damals hatten Die Ärzte ihn als Reaktion auf die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, in Mölln und Solingen veröffentlicht. Die erste Strophe lautet: "Du bist wirklich saudumm, darum geht's dir gut / Hass ist deine Attitüde, ständig kocht dein Blut / Alles muss man dir erklären, weil du wirklich gar nichts weißt / Höchstwahrscheinlich nicht einmal, was Attitüde heißt!" Der Refrain ist dann ziemlich eindeutig, er geht nämlich so: "Arschloch!"

Ein Lehrer aus Georgsmarienhütte rief vor wenigen Wochen dazu auf, das Lied massenhaft herunterzuladen und es sich bei Radiosendern zu wünschen. Im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik gebe es Tendenzen wie 1993, findet er, da wirke das Lied wie eine Fackel in der Nacht. Die "Aktion Arschloch" wurde so erfolgreich, dass "Schrei nach Liebe" inzwischen auf Platz eins der Charts steht. Der Suchbegriff "Attitüde" taucht seither in den Google-Trendcharts auf, und selbst die "Washington Post" berichtete - sie übersetzte die Zeile "Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit" sehr getreu mit: "Your army boots are longing for affection". Die Einnahmen will die Band der Organisation Pro Asyl spenden.

Eigentlich mag Urlaub zu all dem nichts mehr sagen. "Ich bin weder Fachmann noch Politiker. Ich habe einfach eine Meinung." Aber die teilen viele Menschen: Zehntausendfach wurden die Sätze bei Facebook verbreitet, die Urlaub dem Veranstaltungsmagazin "Frizz" in Halle sagte: "Solange es Leute gibt, die nichts können, nichts wissen und nichts geleistet haben, wird es auch Rassismus geben. Denn auch diese Leute wollen sich gut fühlen und auf irgendwas stolz sein. Also suchen sie sich jemanden aus, der anders ist als sie und halten sich für besser. Oder sie sind bekloppterweise stolz darauf, deutsch zu sein, wozu keinerlei Leistung ihrerseits nötig war."

Farin Urlaub ist in den vergangenen Jahren auch als Fotograf hervorgetreten. Soeben erschienen zwei schwergewichtige Bände mit Aufnahmen aus Afrika; einige seiner großformatigen Arbeiten bringt die Galerie Lumas in die Wohnzimmer der Fans. Seinen Künstlernamen wählte der Musiker einst, weil er so gern verreist. Das Ziel des ehemaligen Archäologie-Studenten ist es heute, eines Tages jedes Land der Welt gesehen zu haben. Wenn er zwei Wochen am Stück frei hat, fährt er los, zumeist alleine.

Farin Urlaub berichtet von der Gastfreundschaft in Osttimor und Bhutan und von dem Respekt, mit dem er in Afrika behandelt wird. Er verrät dort nie, welchen Beruf er daheim ausübt. Er erzähle entweder, er sei Messebauer oder Verleger. Und im Grunde weiß ja auch hierzulande kaum jemand, wer dieser Mann wirklich ist: Informationen über sein Privatleben gibt es nicht. Urlaub, der zur Begrüßung noch berlinerte, antwortet dialektfrei und ziemlich scharf, als man ihn danach fragt: "Wer mein Freund ist, der kennt mein Privatleben, und wer nicht mein Freund ist, den geht es einen Scheißdreck an." Das heißt, die Person, die hier sitzt, ist eine Kunstfigur? - "Genau." - Und wenn die Tür zugeht, sitzt hier jemand anderes? - "Genau. Wobei: Es sind schon Schnittmengen vorhanden. Man kann es so sagen: Ich verreise, und die Kunstfigur bringt das Fotobuch heraus." Urlaub liest viel, und wenn man mit ihm über Lektüre-Erlebnisse spricht, hört sich seine Stimme anders an: weicher irgendwie. Auf Reisen bereitet er sich vor, indem er den Evolutionsbiologen Jared Diamond liest. Er schwärmt von einer vorbildlich edierten englischen Neuausgabe mit Historien von Herodot, und zurzeit versucht er, alles von William Faulkner zu lesen. Im Original? "Hallo? Faulkner hat es auf Englisch geschrieben."

Er habe sich oft gefragt, warum er nicht einfach ausgeraubt und umgebracht werde, wenn er allein zu Gast bei abgelegen lebenden Stämmen sei, sagt er. Seine Antwort: "Ich glaube, weil sie wissen, wie es ist, allein zu sein." Ob er auf den Reisen etwas gelernt habe, das er zuhause anwende? Urlaub drückt den breiten Brustkorb heraus. Er schaut sehr eindringlich. Er sagt: "Nimm Fremde freundlich auf. Du weißt nie, was sie Dir Gutes tun."

(hols)
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