Der Zeitgenosse

William Shakespeare ist ein zeitgenössischer Autor - seit 400 Jahren. Das liegt wohl daran, dass der vermutlich 1564 in Stratford-upon-Avon geborene und eben dort vor 400 Jahren gestorbene Dichter schon ganz aus unserer Zeit stammt. Er weiß um die Einsamkeit des modernen Menschen, dessen Himmel leer ist und der getrieben wird vom Unbewussten, von seinen Träumen, Ängsten, Begierden, Fantasien. Natürlich war Sigmund Freud fasziniert von seinen Stücken.

Zugleich ist Shakespeare noch ein Mann des mittelalterlichen Moraltheaters, in dem es nicht um das Individuum geht, sondern um Allegorien, um den ewigen Widerstreit von Laster und Tugend, um die Repräsentanz von Typen, nicht um subjektive Innerlichkeit und Grübelei.

In diesem vormodernen Denken ist das Theater eine Metapher für die Welt. Und ein Dramatiker darf mit voller Lust am derben Spiel auf direkte Wirkung zielen, auf den Effekt, auf die Unterhaltung eines Publikums, das sich aus allen Gesellschaftsschichten zusammensetzt. Und auf seine Kosten kommen will.

Shakespeares Theater ist kein Glasperlenspiel, keine intellektuelle Fingerübung, keine Schreibtischtat, sondern pralles Bühnenspektakel, kalkulierte und erprobte Wirkung. Und zugleich besticht es durch maximale Sprachvirtuosität, vollendeten Hintersinn und die hellsichtigen Bemerkungen eines Künstlers, der im Menschen schon das selbstzweiflerische Individuum erblickt, das vereinzelte Subjekt auf Sinn- und Identitätssuche. Nur ein Autor, der den Bruch zur Moderne erlebt, erkannt und überbrückt hat, der zugleich im Mysterienzeitalter gestanden hat wie in der materialistischen Moderne, konnte ein solch universelles Werk hinterlassen.

Die Verwurzelung in beiden Welten sorgt auch dafür, dass Shakespeares Dramen zugleich unverkennbar sind in ihrem Sprachwitz, ihrer höfischen Eleganz und bauernschlauen Derbheit, und doch jeweils von der Gegenwart handeln, in der sie aufgeführt werden. Sie formulieren allzeit Gültiges, aber sie tun es nicht abstrakt, sondern verlangen nach Aufführung, nach Lebendigkeit, nach Vergegenwärtigung im Spiel. So wird eine Figur wie Hamlet nie alt werden, nie aus der Mode kommen. Sie ist aber auch nie dieselbe. Jede Zeit formt sich ihren Dänenkönig, macht ihn zum Zauderer, Melancholiker, Grübler, Wahnsinnigen oder wahnsinnigen Gaukler, Opfer höfischer Intrigen oder Rebell, Moralisten oder kühlen Intellektuellen.

Und dazu müssen Regisseure nicht eingreifen in den Text, keine neuen Enden erfinden, nicht plakativ modernisieren. "Wichtig ist nur, dass man durch den Shakespeareschen Text hindurch zu den Erfahrungen unserer Zeit findet, zu unserer Unruhe und unserer Sensibilität", hat der polnische Shakespeare-Kenner Jan Kott geschrieben. Shakespeare hat diese Unruhe schon gekannt. Er hat sie seinen Figuren eingeschrieben, darum lässt sie sich heute darin finden.

Wahrscheinlich wirkt Shakespeare auch deswegen so zeitlos modern, weil er bei aller Zurschaustellung von Intrigen, Affekten, Wahnvorstellungen nie ein belehrender Autor war. Er war ein Theatermann, kein Pädagoge.

In sein Theater strömten Handwerker wie Akademiker, Händler wie Angehörige des Adels, und von allen wollte er verstanden werden, alle unterhalten nach ihren Fähigkeiten. Auch das macht sein Werk so vielschichtig - universell in jedem Sinne.

(dok)
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