Grigory Sokolov Der Mann, der zu viel wusste

Düsseldorf · Der Russe Grigory Sokolov gilt als der bedeutendste Pianist der Gegenwart. In der Düsseldorfer Tonhalle spielte er jetzt Schumann und Chopin. Vieles gelang herrlich, zuweilen ging über kostbare Details der große Atem der Musik verloren.

Wieder hat er sein Gesicht vorher in die Gefriertruhe gehalten. Nichts soll im Konzert zucken, nichts beben, nichts entgleiten. Nur im Zustand der Reg- und Ereignislosigkeit kann Grigory Sokolov öffentlich Klavier spielen. Sein Gang zum Flügel ist schnell und wie abwesend, an diesem Ort möchte er mit niemandem Kontakt aufnehmen müssen. Das Licht im Saal ist dunkel, das Publikum scheint verschwunden, jedes Lächeln meidet er hinter seinem gewaltigen Rundrücken; sogar seine Verneigungen sind allenfalls flüchtige Zuwendungen. Im Verbeugen geht er ab, zurück in den Schutz der Garderobe.

Aber dann gibt er - es ist nach 22 Uhr und das offizielle Konzert längst vorbei - Zugabe um Zugabe, als wisse er um seine Unnahbarkeit und versuche, das Eis verspätet zum Schmelzen zu bringen. Dabei sind alle im Bann dieses Zauberers am Klavier, er weiß es nur nicht.

Diese Bannkraft hat mit dem Kult zu tun, der um Sokolov betrieben wird, seit irgendjemand die sehr zutreffende Formel ausgab, der Mann sei der bedeutendste Pianist der Gegenwart. Das mit der Aura war aber nicht immer so: Vor 50 Jahren gewann Sokolov zwar sämtliche Preise beim Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb, doch eindeutig gegen den Willen des Publikums. Das exklusive Votum kam zustande, weil der Jury-Vorsitzende, der russische Klaviertitan Emil Gilels, zahllose Verwünschungen ausgestoßen hatte.

Jetzt ist Sokolov, 1950 in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren, selbst ein solcher Gigant wie sein Vorbild Gilels. Ein übernommenes Amt also, das des Souveräns der russischen Klavierschule, das ihm viele Mühen abverlangt und von dem er die größten Bürden getilgt hat. Er spielt nicht mehr mit Orchestern. Er geht nicht mehr ins Plattenstudio. Er kondensiert seine Programme; nur wenige Meister und Stücke bleiben übrig. Ihnen aber gilt seine Liebe, er pflegt die Kompositionen wie Schätze, besser: Er nähert sich ihnen wie ein Schlossbesitzer, der Besucher eher unwillig empfängt und sie beim Rundgang trotzdem mit maximaler Ausführlichkeit auf die kostbaren Swarovski-Kronleuchter, die barocken Stuckarbeiten oder die edlen Gobelins hinweist. Dieser Dienst ist ihm heilig, er tut ihn um des Schlosses willen, das er geerbt hat und nun verehrt. Dieser Liebhaber kennt jede Ecke und jedes Detail. Deshalb dauern Rundgänge bei Sokolov oft sehr lange.

So verhält es sich jetzt in der Düsseldorfer Tonhalle mit Sokolovs Interpretation von Robert Schumanns grandioser C-Dur-Fantasie. Es gibt da Momente, da man den Atem anhält, so wunderbar klug und zeitfüllend leuchtet Sokolov verborgene Winkel der Partitur aus. Das birgt bei Schumann indes eine Gefahr: dass sich der Musiker in den Details verliert. Und in der Tat: Sokolov ist hier der Mann, der zu viel weiß. Er präsentiert uns jeden Luxus, doch das Schloss als Ganzes verliert er aus dem Blick. Dabei möchte man doch erleben, dass vom Schumann-Gebäude ein geheimnisvolles Raunen ausgeht, ein düsterer Atem; Schumann ist nicht nur prunkvoll, sondern immer auch flüchtig und schattenhaft. Dieses Zart-Visionäre als Ausdruck des inneren Zustands von Musik entgeht dem bedeutendsten Pianisten der Welt, weil er ja in wirklich jede Ecke Kerzen leuchten lässt. Und weil er aus Deutlichkeit zu langsam wird. Sokolov müsste seine immense Kenntnis manchmal zugunsten der Idee eines Werkes vernachlässigen.

Das war schon neulich aufgefallen, als er bei der Deutschen Grammophon Beethovens "Hammerklaviersonate" erst in einem Audio-Mitschnitt vom August 2013 auf CD herausbrachte und in einem Atem auch einen Berliner Mitschnitt vom Juni 2013 als DVD vorlegte. Was für wunderbare Abende, dachte man beim Hören, es waren herrliche Begegnungen mit einem Meisterwerk, bei denen allerdings wieder irritierte, dass sie den Tempi Beethovens oft nicht entsprachen. Sokolov zergliederte seinen Beethoven, er rang ihm alle Abgründe, Zerklüftungen, Zerrissenheiten ab, das Werk zerfiel sozusagen zu einer beeindruckenden Ruine. Aber den Beethoven-Sog als die überspannende Klammer des Werks - den hörte man nicht.

Nach der Pause ist in Düsseldorf alles anders. Jetzt spielt er Chopins b-Moll-Sonate, von der er sich treiben lässt. Musik, die strömt. Trotzdem inszeniert er präzise: Die Akkorde des Trauermarsches gleichen den Glocken einer verfallenen Kathedrale, die dröhnen und verhallen. Das Finale ist eine Offenbarung: schnell, nervös, unfassbar deutlich.

Der Applaus ist dankbar und erhaben. Was für imposante Schlösser! Hinterher ist man von Sokolovs Rundgängen nur etwas erschöpft.

(w.g.)
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