Goethe Der klassische Aussteiger

Vor 200 Jahren erschien Goethes "Italienische Reise". Es ist das Dokument einer Sehnsucht nach Freiheit und des Verlangens, dem Ursprung unseres Lebens auf die Schliche zu kommen.

Einfach alles hingeschmissen. All die lästigen Jobs und die täglichen Pflichten. Und dann Hals über Kopf aus Deutschland abgehauen, heimlich und zu nächtlicher Stunde - gen Italia. Bis er schließlich in Rom landet, dort in einer WG unterkommt und für ein paar sonnige Wochen das Glück und auch die Liebe finden wird. Ein bisschen Hippie-Leben ist das, aber eins aus dem späten 18. Jahrhundert. Der Name des Rumtreibers: "Filippo Miller, Tedesco, Pittore", wie er allen sagt. Doch einen deutschen Maler namens Philipp Möller gibt es gar nicht. Hinter dem ulkigen Decknamen steckt vielmehr Deutschlands wohl berühmtester Dichter - Johann Wolfgang von Goethe.

Die Flucht in den Süden ist schon merkwürdig genug. Warum dann noch dieses Halbinkognito, dass Goethe selbst "wunderlich" und sogar "grillenhaft" nennt? Weil er die Wahrheit sucht und er der Welt unverstellt gegenübertreten möchte. Und da könnte es, denkt sich der Berühmte, durchaus von Vorteil sein, unerkannt und unbenannt den Menschen zu begegnen.

Das hört sich sehr nach Programm an, und das ist es auch. Denn fast alles hat Goethe geplant, die Route, die Aufenthalte, sein Besichtigungsprogramm. Schon vor Antritt der Reise weiß Goethe, was er sehen möchte. Und man ahnt, dass er auch zu glauben weiß, was er sehen und erleben wird. Genau so lesen sich dann die ersten Reisenotizen vom September 1786: Goethe schaut sich selbst permanent beim Betrachten zu, und was er dabei erkennt, kann sich sehen lassen: einen von den Resten der Antike und von sich selbst entzückten Goethe.

Inmitten dieser Ergriffenheit wird manches ausgerechnet für ihn unbeschreiblich, etwa seine Ankunft in Venedig: "Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will, ich sage nur, wie es mir entgegenkömmt." Im Grunde ist das ein Armutszeugnis; vielleicht auch nur eine Pose. Denn seit Beginn der Reise gefällt sich Goethe, der längst Arrivierte, in der Rolle des jugendlichen Stürmers und Drängers. Arg dramatisch wird schon die Abreise aus seiner Kur in Karlsbad am 3. September 1786 geschildert: Früh um drei stiehlt er sich davon, kurz nach seinem 37. Geburtstag. Nur mit einem "Mantelsack" und einem "Dachsranzen" wirft er sich in eine Postchaise - und ab geht die Post Richtung Süden.

Natürlich ist das nicht ganz unproblematisch, sich vom Weimarer Hof zu entfernen, ohne den Herzog um Erlaubnis gebeten zu haben. Zumal Goethe, der Geheime Rat, Minister ist und in diesem Amt nicht nur den Bergbau in Ilmenau beaufsichtigt, sondern auch die Kriegs- und Wegebaukommission leitet. Doch Goethe hat vorgesorgt und in den Wochen vor der Abreise heimlich, still und leise Verantwortlichkeiten in den Ämtern umgruppiert. Dem Herzog kann er also reinen Gewissens schreiben, dass die Geschäfte auch ohne ihn laufen werden. "Ja ich dürfte sterben und es würde keinen Ruck tun", schreibt er maximal beschwichtigend.

Dennoch ist Goethe mit seiner im September 1786 beginnenden und bis Juni 1788 währenden Italienreise auch ein Aussteiger - aber ein "klassischer", einer, der alles unter Kontrolle behält. Und der sich Ziele gesetzt hat. Welche das sind, kann der Leser der "Italienischen Reise", die erstmals 1816 - also vor 200 Jahren - erscheint, unschwer dem Motto entnehmen: "Auch ich in Arkadien!" Kleiner geht's nicht, nicht beim Olympier aus Weimar und nicht auf dieser Reise in ein Land, in dem das Große einst war, ist und sein wird. "Es liegt in meiner Natur, das Große und Schöne willig und mit Freuden zu verehren", schreibt er in Verona. Goethe lässt sich berauschen von solchen Schöpfungserlebnissen; Rom ist für ihn "die hohe Schule für alle Welt"; in Palermo glaubt er endlich die Urpflanze und in den Italienern selbst das Urvolk, das Volk der homerischen Gedichte, entdeckt zu haben. Er sieht Menschen, die ein "nachlässiges Schlaraffenleben" führten, wie er klischeehaft schreibt.

Goethe hat viel gesehen, vom Gardasee (wo er beinahe als Spion verhaftet wird) bis Verona, von Neapel bis Palermo. Doch nirgends ist der "nordische Flüchtling" so glücklich wie in Rom, der Hauptstadt der Welt. "Ich lebe nun hier mit einer Klarheit und Ruhe, von der ich lange kein Gefühl hatte." Goethe wohnt dort in fast studentischen Verhältnissen - in einer Art Künstler-WG in der Nähe der Porta del Popolo gemeinsam unter anderem mit dem Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Der zeichnet ihn in Alltagsszenen und malt ihn in pompös-klassischer Haltung auch in Öl - "Goethe in der Campagna". Dieses Porträt wird der Porträtierte später mit nach Weimar nehmen.

Und die Liebe? Die bleibt beim ansonsten Redseligen bis heute ein Geheimnis. Beim zweiten Rom-Aufenthalt soll es um ihn geschehen sein, doch findet sich auf den vielen hundert Seiten der Reiseberichte dazu kein einziges Wort. "Faustina" dürfte es gewesen, die Geliebte in Goethes "Römischen Elegien".

Dem bunten Leben auf die Schliche kommt Goethe aber auch auf andere Weise: beim römischen Karneval. Selbst darin glaubte er ein "Naturerzeugnis und Nationalereignis" auszumachen; ein Fest, das "dem Volk eigentlich nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt".

Seine Beschreibungen haben selbst die Rheinländer mächtig beeindruckt. Denn als man sich in Köln anschickte, den Straßenkarneval zu reformieren, bediente man sich beim italienischen Vorbild - nach Beobachtungen, wie sie Goethe auf seiner italienschen Reise gemacht hat.

(los)
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