Köln Der Großinquisitor im Kölner Dom

Köln · Klaus Maria Brandauer liest auf der Lit.Cologne in der Kathedrale vor fast 2000 Zuhörern Kirchenkritisches von Fjodor Dostojewski.

Bitterkalt ist es. Vielleicht so kalt wie in jenem Verlies, von dem vorne im Dom die Rede ist. Der Inhaftierte ist Jesus, und der, der ihn am nächsten Morgen auf den Scheiterhaufen bringen will und ihm jetzt noch einen Vortrag hält, ist der Großinquisitor.

Der Schlimmste aller Ketzer sei Gottes Sohn, sagt der 90-jährige Kardinal. Da ist es ganz still in diesem großen und spärlich beleuchteten Dom. Nur der ungeheuerliche Inquisitor ist zu hören, dem Klaus Maria Brandauer seine Stimme leiht. Nicht als Schauspieler und nicht als Interpret. Sondern beinahe wie der unerbittliche Ankläger selbst. Sehr langsam, gefasst und überlegen. Jedes Wort will bedacht sein. Jeder Satz scheint auf ein Echo zu warten. Mit seiner Stimme streicht Brandauer über den Text, und wenn er eine Seite aus der großformatigen Textvorlage genüsslich umblättert, ist das ein kleiner Akt.

Die berühmte Geschichte von Fjodor Dostojewski (1821-1881) zählt mit zum Kirchenkritischsten, was die europäische Literatur zu bieten hat. Die scharfen, aber auch blitzgescheiten Worte des Inquisitors sind auf einen Kirchenraum als Spielfläche nicht angewiesen. Doch die Hohe Domkirche zu Köln wird dann doch zu einem Ort, der die Geschichte aus dem 16. Jahrhundert in die Gegenwart zu zaubern scheint.

Widerstand gegen den Vortrag dieser ketzerischen Rede hat es nicht gegeben. Eine Ablehnung des Domkapitels wäre für Dominik Meiering, Generalvikar des Erzbistums, sogar eine "Katastrophe" gewesen. Weil für ihn die Kirche "ein Ort der Freiheit" sei. Um nichts anderes geht es in diesem Monolog: um jene Freiheit, die Jesus den Menschen gegeben habe und mit der das Gottesvolk herzlich wenig anzufangen wisse. Ach was, schlimmer noch: Es gebe nichts Qualvolleres für den Menschen, als selbst darüber entscheiden zu müssen, was Gut und was Böse sei. Die sogenannte Freiheit des Gewissens ist darum nichts anderes als eine Folter. So weit, so überraschend - und so rigoros die Folgerung des Inquisitors: Für die Erlösung von dieser Pein sei die Kirche zuständig, mit ihrer ganzen Autorität und ihrem Wahrheitsanspruch. Das mache viele schwache Menschen glücklich und die Kirche selbst unglücklich. Doch sie ist großherzig genug, diese Art der Sünde zum Wohle der Menschen auf sich zu nehmen.

Alles in einem sträubt sich gegen diese Anmaßung, gegen diese Machtausübung, also auch gegen diese Art von Kirche. Brandauer hält glaubhaft dagegen. So dezent ist sein Sprechen. Er möchte den Großinquisitor wenigstens denken, hat er vor der Lesung erklärt und doch gehofft, dass vielleicht der liebe Gott dann hinter ihm stehe und ein bisschen über die Schulter schaue. Hadern darf man mit Gott, erst recht, wenn es so bedacht geschieht wie beim großen Burg-Schauspieler, der sein Glaubensverhältnis gerne mit einer Zeile von Luis Buñuel beschreibt: "ein Atheist von Gottes Gnaden".

Doch auch der Inquisitor ist vor der Kälte im Gotteshaus nicht geschützt. Oft sitzt Brandauer im dicken Wintermantel in sich zusammengekauert vorne am Tisch. Und da Jesus nach Dostojewskis Geschichte sein Zuhörer ist, muss Gottes Sohn also irgendwo auch unter den 2000 bibbernden Zuhörern sitzen. Das ist nicht die einzige spannende Erkundung an diesem ungemütlichen Abend. So hatte Meiering sich zuvor auch die Frage gestellt, wen der Dom wohl unterstützen würde: den wortgewaltigen, scharf denkenden Großinquisitor oder den schweigenden und unsichtbaren, irgendwie abwesenden Jesus?

Das ganze Drumherum dieser Textaufführung - die große Kulisse also, die vielen erwartungsfrohen Menschen sowie der Großschauspieler, dem in seinem Spiel das Mephistophelische nie fremd ist - verwandeln die Worte. Das Ungeheuerliche der Vergangenheit wird zur Skepsis der Gegenwart. Denn ist es nicht die Kritik gerade der Kirchenfernen, dass die Institution mehr als nötig zu sagen pflegt, was geboten und welches Leben gottesfürchtig ist? Der "Hausherr" der Kathedrale, Dompropst Gerd Bachner, nennt die Geschichte nur vordergründig kirchenkritisch. Denn eigentlich ruhe in ihr ein visionärer Blick auf alles Totalitäre fern des Glaubens, sagt er zur Begrüßung.

Bleibt die Frage, warum Jesus im Verlies schweigt und das Feld dem Vollstrecker überlässt? Ein "beredtes Schweigen" nennt das an diesem Abend Joachim Franck, Chefkorrespondent des "Kölner Stadt-Anzeigers", in seiner Einführung. Mag sein, dass die Vorwürfe auf diese Weise an Gottes Sohn abprallen. Es kann aber auch sein, dass sein Glauben sich gar nicht verteidigen muss, sondern dass er in Jesus einfach existiert. Gelebter, nicht gesprochener Glaube - und darum auch nur praktizierte Vergebung: Denn am Ende wird Jesus dem Greis auf die blutleeren Lippen küssen. Und der öffnet die Kerkertür und entlässt seinen Gefangenen mit dem letzten Fluch: "Komm überhaupt nicht mehr wieder, niemals, niemals."

Das Werk ist getan. Brandauer schließt das Buch, erhebt sich und geht. Und wir applaudieren mit kathedralenkalten Händen dem, der für uns den Inquisitor gab.

(los)
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