Der Bruder des ersten Mauertoten

Am 24. August 1961 wurde Günter Litfin auf der Flucht von Ost- nach Westberlin durch DDR-Grenzer ermordet. Durch einen Schuss ins Genick. Der zornige Jürgen Litfin bewahrt das Andenken an seinen Bruder Günter in einem Grenzturm am Berliner Invalidenfriedhof: "Der Name meines Bruders darf nie mehr verschwinden."

In einem alten Wachturm der untergegangenen DDR wacht Jürgen Litfin über über das Gedenken an seinen Bruder Günter. Günter Litfin wollte am 24. August 1961 am Berliner Humboldthafen in die Freiheit schwimmen.

Jürgen Litfin wird schnell ungehalten. Die jüngere deutsch-deutsche Geschichte ist für ihn vermintes Gelände: voller Lügen, voller Ungerechtigkeiten, wie er meint. Da werde so viel Falsches immer und immer wieder erzählt.

Der ältere Herr weiß es besser. "Ich habe ja unter diesen Pennern leben müssen", erklärt er und klopft die Asche seiner Zigarette schwungvoll am Fenster des Wachturms ab. "Sein Turm" – er steht unweit des Berliner Hauptbahnhofs, am Rande des Invalidenfriedhofs, mitten in einer Neubausiedlung am Rande des heutigen Berliner Mauerwegs. Er steht hier, seit die DDR-Führung beschlossen hatte, in Berlin eine Mauer zu errichten und damit die Teilung der Stadt für 28 Jahre zu zementieren.

In diesen Tagen, 50 Jahre nach Beginn des Mauerbaus, hat Jürgen Litfin deshalb wieder viel Besuch in seinem Turm, von dem aus die DDR-Grenzpolizisten einst ein etwa ein Kilometer langes Stück Grenze zwischen Ost und West überwachten.

50 Jahre also sind vergangen seit dem historischen Ereignis, das so viel Leid hervorgebracht hat. Es gibt keinen Tag, an dem Jürgen Litfin nicht über diesen August 1961 spricht. Sein grauer Betonturm sieht zwischen den schicken neuen Immobilien aus, als hätte ihn jemand dort vergessen. Er passt nicht ins Bild. Doch Jürgen Litfin hat dafür gesorgt, dass er niemals weichen muss. Der Turm ist heute ein Denkmal. "Und wenn ich mal nicht mehr kann, dann wird sich jemand anderes darum kümmern, dass das hier weitergeht." "Das hier" ist für ihn die Garantie dafür, dass "der Name meines Bruders nie wieder vergessen werden kann".

Sein Bruder Günter Litfin war der erste Mensch, der bei einem Fluchtversuch an der Mauer getötet wurde. Beide, Günter und Jürgen Litfin, lebten Anfang der 60er-Jahre noch in ihrem Elternhaus im Ost-Stadtteil Weißensee, im sowjetischen Sektor des von den vier Siegermächten besetzten Berlin. Die Brüder waren Anfang 20, unternehmungslustig und misstrauisch gegenüber ihrem neuen Staat, der Deutschen Demokratischen Republik. Die katholische Familie, der Vater ein CDU-Mann, war mit dem sozialistischen Neuanfang in diesem "besseren Deutschland" nicht einverstanden. Man passte nicht zueinander. Trotzdem unterschätzten auch die Gebrüder Litfin die Härte, mit der der sowjetische "Frontstaat" bereit war, gegen seine Feinde vorzugehen.

Günter Litfin arbeitete als Schneider in West-Berlin, er hatte dort schon eine Wohnung gefunden, wollte ganz im Westen bleiben, wie so viele DDR-Bürger in den ersten Monaten des Jahres 1961. Doch am 13. August machte eine beunruhigende Nachricht allmählich die Runde: Die machen die Grenze dicht, hieß es.

Günter und Jürgen schwangen sich auf ihre Räder. "Wir wollten wissen, was los ist", erinnert sich Jürgen Litfin. An der Grenze trafen die Brüder auf Stacheldrahtzäune und Wachleute. Sie kehrten mit der Erkenntnis nach Hause zurück, dass sie von nun an Gefangene in ihrem eigenen Land waren.

Wenige Tage später, am 24. August 1961, erfahren Jürgen Litfin und seine Mutter aus dem West-Fernsehen, dass die Feuerwehr aus dem Humboldthafen die Leiche eines jungen Mannes geborgen hatte. Es war Günter. Er hatte am Nachmittag vergeblich versucht, durch den Kanal in den Westen zu schwimmen. Ein Grenzpolizist der DDR eröffnete das Feuer auf den Mann im Wasser.

Wie viele Menschen bis 1989 bei Fluchtversuchen in Berlin umkamen, ist umstritten. Offizielle Angaben reichen von 136 bis zu mehr als 220. Der 21-jährige Chris Gueffroy war im Februar 1989 der Letzte, der an der Mauer erschossen wurde. Turmwächter Jürgen Litfin meint, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist. "500 Menschen starben dort bestimmt." Den Glauben an Offizielle und deren Informationen hat er lange verloren.

Am 25. August, dem Tag nach dem Tod des Bruders, wird Jürgen Litfin selbst verhaftet. Ausserdem wird die Wohnung der Mutter von der Staatssicherheit "auseinandergenommen". Man sucht nach Hinweisen auf eine Mitwisserschaft oder Unterstützung des toten "Republikflüchtlings" durch die Familie. Doch es lässt sich nichts finden.

"Günter hatte keinem was gesagt. Er wusste doch, dass wir dann auch dran sind." In die Trauer um den toten Bruder mischt sich schon in den folgenden Tagen eine unbändige Wut "auf diese Dreckschweine". Weder Jürgen noch sonst jemand aus der Familie dürfen den Leichnam des Getöteten sehen. Offiziell ist er durch "ein Unglück" ums Leben gekommen. Die Familie ist unmissverständlich angehalten, fortan über die wahren Umstände seines Todes zu schweigen.

Doch zur Trauerfeier im kleinen Kreis bringt Jürgen Litfin eine Eisenstange mit. Im Keller der Friedhofskapelle öffnet er damit gewaltsam den Sarg des Bruders. "Ich wollte ihn noch einmal sehen. Ich wollte wissen, was sie mit ihm gemacht haben. Das war ich ihm schuldig." Günters Gesicht ist beinahe unversehrt. Bruder Jürgen hat nun Gewissheit, wenigstens das. "Er ist mit einem gezielten Genickschuss getötet worden." Jürgen Litfin sagt, dass er es mit eigenen Augen habe sehen müssen. Die Leiche des Bruders war auch der Beweis dafür, dass, wer flüchtet, von nun an sein Lebens aufs Spiel setzen würde. Bisher hatte niemand das ernsthaft für möglich gehalten.

Wie das Leben für die Familie weiterging? Wieder wird der Turmwächter unwirsch: "Was hätte ich denn machen sollen? Meine Frau erwartete ein Kind. Ich konnte meine Mutter nicht allein lassen." Mehr erfährt man von ihm nicht über sein Leben in der DDR nach dem Tod des Bruders. Er arbeitete in einer Gießerei, dann als Schweißer, später hatte er einen Eisenwarenladen. Es sei der Familie den Verhältnissen entsprechend gut gegangen. Man hat sich durchgebissen, soll das wohl heißen.

1980 gerät Jürgen Litfin noch einmal in Konflikt mit dem SED-Staat. Wegen eines Missverständnisses wird er der Fluchthilfe beschuldigt und verhaftet. 1981 kauft ihn die Bundesrepublik Deutschland frei, und er reist "ohne ein Hemd" mit seiner Frau in den Westen aus. Fortan lebt das Paar in West-Berlin, wenige Kilometer von der alten Heimat entfernt, unerreichbar für die alten Freunde.

Wenige Tage nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 stehen Jürgen Litfin und seine Frau wieder bei ihnen in Ost-Berlin im Garten. Man feiert das Unglaubliche, und man freut sich daran, dass die Jahre der Trennung sie nicht verändert haben. Man hat einander nicht vergessen. Auch den Bruder nicht. Jede Woche ist Jürgen Litfin all die Jahre zu der Gedenktafel am Ufer in West-Berlin gefahren, die in West-Berlin für Günter aufgestellt worden war. Er räumte unachtsam weggeworfene Pappbecher beiseite, sah nach dem Rechten. Als er im Jahr 1995 wieder einmal dort ist, fehlt von dem Stein plötzlich jede Spur. "Eigentlich bin ich dann erst richtig aktiv geworden", erzählt er. "Der Name meines Bruders darf nie wieder verschwinden."

Berlin befindet sich Anfang der 90er-Jahre mitten im Umbruch. Der Wunsch der Menschen nach Normalität wird mit dem Abtragen der hässlichen Spuren der Vergangenheit Rechnung sichtbar. Stück für Stück verschwinden Grenzanlagen und Wachtürme – und irgendwie auch der Gedenkstein. Die Stadt soll wieder zusammenwachsen. Jürgen Litfin geht vieles zu schnell und zu weit. "Wie sollen denn die jungen Leute heute noch verstehen, was die Mauer bedeutet hat?" Den Stein hat er wiedergefunden und ihn wieder aufgestellt. Und er hat den Grenzturm am Invalidenfriedhof vor dem Abriss bewahrt. Vor Gericht ist er dafür gezogen, auch mit Bürgermeister Klaus Wowereit, "unserem Partylöwen", hat er gesprochen - und Recht bekommen. "Der Turm darf weder verrückt noch abgerissen werden."

Am 24. August 2003, 42 Jahre nach dem Tod des Bruders, eröffnete Jürgen Litfin die Gedenkstätte zwischen den schicken neuen Häusern. Im Turm erzählt er heute Schülern aus der ganzen Welt die Geschichte seinen Bruders. Nur aus dem Osten Deutschlands kämen keine Schulklassen – "wegen der "SED-behafteten Lehrer". Jürgen Litfin wird wieder laut: "Wie denn so, bitteschön, eine wirkliche Wiedervereinigung stattfinden soll?" Er raucht wieder, rastlos.

Seinen Frieden mit der Geschichte wird der Bruder des Erschossenen wohl nicht mehr machen können.

Die Gedenkstätte ist von März bis Oktober täglich von 12 bis 17 Uhr oder nach Absprache geöffnet, Kontakt: Tel. 0163/379 72 90 an. Führungen sind kostenlos.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort