Das Phänomen Kissinger

Der Einfluss des Altmeisters der US-Diplomatie ist immer noch tiefgreifend.

Über den ehemaligen US-Außenminister gibt es viele Ansichten. Kissinger als großer Staatsmann, dessen Initiativen einst den Vietnam-Krieg beendeten. Andere sehen in ihm einen Zyniker, der Diktatoren hätschelte und für blutige Konflikte auf drei Kontinenten verantwortlich ist. Greg Grandins Buch "Kissingers langer Schatten" gehört eindeutig in die zweite Kategorie.

Als beredte Stimme der politischen Linken beschreibt der amerikanische Historiker Greg Grandin in elf Kapiteln den Aufstieg des 1923 in Fürth geborenen Henry Kissinger und wie dieser mit kühlen Schachzügen in die Diplomatiegeschichte einging.

Kissingers politische Karriere begann mit einer Intrige. Im Herbst 1968 verhandelten in Paris die Amerikaner, Nord- und Südvietnamesen über den Frieden. Währenddessen lief in den USA der Wahlkampf zwischen Richard Nixon und Hubert Humphrey auf Hochtouren. Mithilfe geheimer Informationen, die Kissinger beschafft hatte, gelang es Nixons Unterstützern, die Friedensgespräche zu sabotieren und die Position des demokratischen Rivalen Humphrey empfindlich zu schwächen. Die Folge: Nixon gewann die Wahl. Drei Wochen später bot er Kissinger das Amt des Nationalen Sicherheitsberaters an, das dieser in eine Machtzentrale umwandelte.

Als Beleg zählt Grandin eine ganze Reihe blutiger Kriegsverbrechen auf, die Kissinger während seiner Amtszeit als Sicherheitsberater und Außenminister in der Nixon- und Ford-Regierung mitzuverantworten hatte. Etwa die illegale Bombardierung Vietnams und der Nachbarländer Kambodscha und Laos oder den Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende in Chile (1973). Und nicht zuletzt den Überfall des indonesischen Führers Suharto auf Osttimor (1975), für den die USA fast alle Waffen bereitstellten.

Das an sich ist nichts Neues, schon andere Autoren haben Kissingers geostrategisches Denken und Handeln beschrieben und hart kritisiert. Etwa Christopher Hitchens, der mit seinem Buch "The Trial of Henry Kissinger" ("Die Akte Kissinger") eine bissige Anklageschrift ablieferte. Grandin richtet seinen Blick jedoch vielmehr auf die Auswirkungen der Politik Kissingers - seinen "langen Schatten" und seine Rolle bei der Schaffung der Welt, in der wir heute leben.

Es ist Kissinger, argumentiert Grandin, der die heutige US-Außenpolitik mitzuverantworten habe: eine Kette von Kriegen, Militärinterventionen und anderen Formen gewaltsamer Eingriffe in der Welt. Moralische Grundsätze, Menschenrechte oder die Souveränität anderer Staaten waren für ihn stets zweitrangig.

Auch wendet sich der Historiker gegen die gängige Meinung, Kissinger wie dessen Vorbild Fürst Metternich als einen Verfechter der Realpolitik zu sehen. Der 93-jährige Diplomat solle vielmehr als "radikaler Linker" verstanden werden. Schließlich sei in dessen Wahrnehmung nicht die Wirklichkeit entscheidend, wie man sie vorfindet, sondern jene, die man mithilfe der Politik selbst erschafft.

Das alles ist spannend geschrieben und klingt auf den ersten Blick recht plausibel, allerdings auch in Teilen etwas konstruiert. Folgt man Grandins Logik, gab es keinen Putsch, keinen Bürgerkrieg und keinen politischen Mord, für den Kissinger nicht mitverantwortlich war. Das wirkt dann doch einseitig.

(RP)
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