Essen Das Kinowunder aus Deutschland

Essen · "Toni Erdmann" war im Frühjahr die Sensation beim Festival in Cannes. Nun läuft der Film von Maren Ade endlich an. Eine Begegnung.

Man würde Maren Ade gern mal eben umarmen, aus Dankbarkeit, aber man traut sich nicht, außerdem ist sie stark erkältet. Die 39-Jährige hat "Toni Erdmann" gedreht, den heitersten, zugleich traurigsten und überhaupt tollsten deutschen Film seit langer Zeit. Er wurde im Wettbewerb des Festivals in Cannes gezeigt, was ja fast nie einer deutschen Produktion gelingt, und wer ihn dort gesehen hat, war überzeugt, dass er gewinnen würde: "das Kinowunder aus Deutschland". Es kam anders, aber Ade ist deswegen nicht gram. Sie sei eh immer sehr misstrauisch, sagt sie abgeklärt und mit beschlagener Stimme, deswegen hatte sie sich keine großen Hoffnungen gemacht.

Ade sitzt im Foyer des Hotel Sheraton in Essen, sie stellt den Film nun deutschlandweit vor, am Donnerstag kommt er endlich ins Kino. Sie hat ihn in 55 Länder verkauft, erzählt sie, was bei einem Autorenfilm von 162 Minuten Länge sensationell ist. Man habe ihr nahegelegt, sich in Hollywood einen Agenten zu suchen. Aber sie will nicht, "ich habe zwei Kinder", sagt sie, vier Jahre und vier Monate alt. Außerdem: "Ich brauche mein Land und meine Sprache und die Freiheit, die man hier durch die Filmförderung hat."

Ade ist 39 Jahre alt, sie wurde in Karlsruhe geboren. Die Eltern sind Lehrer, was die Arbeit am Abschlussfilm für die Hochschule für Fernsehen und Film in München erleichtert haben dürfte: "Der Wald vor lauter Bäumen" erzählte 2003 von einer jungen Lehrerin, die alles richtig machen will und der doch nur eines gelingt, so richtig in jedes Fettnäpfchen zu treten, nämlich. Man muss das gesehen haben, man kann manchmal gar nicht hinschauen, so peinlich ist das, so tragisch und wahrhaftig.

Das Wahrhaftige ist vielleicht das größte Talent von Maren Ade. "Alle anderen" ist auch von ihr, der Film über ein Berliner Paar um die 30, das im Urlaub merkt, dass es gar nicht so cool ist, wie es gedacht hat. Da sitzen Birgit Minichmayr und Lars Eidinger dann im Ferienhaus der Eltern auf Sizilien und necken und beißen einander, alles funktioniert über feine Gesten und die Sprache, alles ist ironisch und tut zunächst nur ein bisschen weh, und nachher wundern sie sich, dass sie bluten.

Aus "Alle anderen", der die Berlinale 2009 euphorisierte, sei "Toni Erdmann" hervorgegangen, erzählt Ade und verzieht das Gesicht, wie man das macht, wenn die Nase juckt. Die Eltern seien in jenem Film ja abwesend gewesen, aber schon während des Drehs habe sie beschlossen, sie demnächst sichtbar zu machen, sich mit der Beziehung von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern zu beschäftigen. "Toni Erdmann" ist also ein Beziehungsfilm geworden, es geht um Ines Conradi, die erfolgreiche Unternehmensberaterin, die gerade in Bukarest etwas abwickelt, und um Winfried, ihren schusseligen Vater, der mit Hund in der Provinz lebt, Klavierunterricht gibt und Klamauk mag.

Einmal besucht er die Tochter, überraschend, und dann steht er neben einem Geschäftsmann, der für Ines gerade total wichtig ist, und als sie nicht hinsieht, sagt er dem Business-Menschen, dass er Ines' Vater sei. "Sie ist kaum noch zuhause, deshalb habe ich mir eine Ersatztochter besorgt. Und nun ist die Frage, wer die bezahlt." Dann dreht sich Iris um, und der Geschäftspartner sagt, sie müsse sich mal mehr um den Vater kümmern.

Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen die beiden, und sie machen das großartig, sie definieren ihre Figuren über kleinste Bewegungen und über das Sprechen: "Ich bin ja nur dein Vater." - "Sag mal, wie lange willst du eigentlich bleiben?" Auf leichteste Art verhandelt der Film große Gegenwartsthemen, die Beziehung zwischen den Generationen, die globalisierte Beraterökonomie, Work-Life-Balance. Diese Tiefenbohrung gerät derart heiter, dass man Maren Ade eines unbedingt fragen muss: Wie bekommt man Humor in einen Film? Sie lächelt, nickt, hebt die Brauen, hm, schwierige Frage, jaja. Also: "Je ernster eine Szene grundiert gewesen ist, desto leichter war es, sie lustig zu gestalten." Was ist ihr Humor-Ideal? "Mich amüsieren absurde alltägliche Situationen, in denen etwas in der Kommunikation verrutscht. Humor hat mit Überraschung zu tun. Mit Rhythmus und Timing. Wenn jemand einen Witz machen will, muss er schnell und präzise sein." Wen findet sie lustig? "Gerhard Polt."

In "Toni Erdmann" denkt sich der Vater eine Kunstfigur aus, jenen titelgebenden Toni Erdmann, der sich bei Ines' Kollegen als Berater vorstellt und ein falsches Gebiss trägt, das von Loriot aus dem Sketch mit dem berühmten Satz "Maske? Welche Maske?" geborgt zu sein scheint. Er ist ein Hausgeist, er taucht überall auf, er ist auch ein Schutzengel, und als die Tochter vor Schreck aufschreit, weil sie ihren Kleiderschrank öffnet, und der Vater darin steht, sagt er: "Tut mir leid, ich wollte nur nach dir sehen."

"Toni Erdmann" ist eine Familiengeschichte, eine Liebesgeschichte auch, die verrückteste und rührendste, die man sich vorstellen kann. Schaut Maren Ade sich bei Kollegen etwas ab, hat sie Hausheilige? "John Cassavetes", sagte sie, "manchmal spüre ich auch eine Sehnsucht nach Fassbinder." Sie möge halt Filme, bei denen eine Figur im Mittelpunkt steht, die ausführlich charakterisiert wird.

Sie hustet, sie muss los, und auch Sandra Hüller, ihre Hauptdarstellerin steht nun neben ihr in der Lobby. Viel Erfolg, will man noch sagen, aber sie sind schon weg. Die silbernen Schuhe von Sandra Hüller glitzern sehr schön.

(hols)
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