Die schönsten 100 Romane Platz 1: "Das steinerne Floß" von José Saramago

Düsseldorf · Der Portugiese hat eine magische Geschichte erzählt: Die Iberische Halbinsel trennt sich von Europa und treibt aufs offene Meer hinaus.

Schröders 100 - Platz 1: "Das steinerne Floß" von José Saramago
Foto: RP/Ferl

Manche behaupten, dass man stets das richtige Buch zur richtigen Zeit liest. Vielleicht ist das ja so. Vielleicht ist es darum auch nicht anders zu erklären, dass ich plötzlich ausgerechnet diesen Roman in meinen Händen hielt, als hätte ihn jemand geradewegs hineingelegt. Vor einigen Jahren hatte ich das Buch bereits einmal gelesen. Aber nur eine schwache Erinnerung sagte mir noch, dass es damals eine spannende Lektüre gewesen ist.

Und dann setzte dieses zweite Buch-Phänomen ein, dass vielen Lesern bekannt vorkommt: Dass man eigentlich partout keine Zeit hat, diesen dicken Roman jetzt zu lesen, weil dies und das viel nötiger und wichtiger wäre. Doch dann haben sich alle Zeitdiebe in Luft aufgelöst: Man liest und liest, ohne irgendetwas zu versäumen.

Genauso ist es mir jetzt mit José Saramagos "Das steinerne Floß" ergangen. Und während täglich die Nachrichten von immer neuen Flüchtlingen und ihren Lebensgefahren uns erreichen und Fragen nach europäischer Identität gestellt werden, lese ich die Geschichte über die Spaltung des Kontinents. Denn das steinerne Floß ist die Iberische Halbinsel mit Spanien und Portugal, Andorra und Gibraltar, die sich von Europa abtrennt und aufs offene Meer hinaustreibt.

Europa spaltet sich? Nicht nur allegorisch, sondern auch sichtbar und erfahrbar. Was für ein Unfug! Aber was für ein herrlicher Einstieg in die Geschichte und eine grandiose Verführung zu einer unglaublichen Reise voller Merkwürdigkeiten. So bricht die Iberische Halbinsel nicht einfach so vom europäischen Kontinent ab. Und man sieht amüsiert Saramago dabei zu, wie er bemüht ist, uns das irgendwie plausibel zu machen. Es fängt mit ein paar kleinen Rissen in den westlichen Pyrenäen an, und als die immer größer und tiefer werden, kommen erst fröhliche Schaulustige und dann ratlose Geologen. Die Wissenschaft nützt in diesem Fall wenig, und so greift man zu gröberen Lösungen. Dutzende von Betonmischmaschinen werden bilateral herbeigeschafft — also von Frankreich und Spanien —, bis die Spalte geschlossen ist. Ein kleiner Ruck der Erde aber genügt, die ganze schöne Fugenmasse in einem unergründlichen Abgrund wieder verschwinden zu lassen. Soweit die Ursachenforschung der Technokraten.

Es gibt andere Geheimnisse — und mit ihnen beginnt die Geschichte magisch zu werden, unter anderem in dem Ort Cerbére. Wer bei diesem Namen an den mythischen Höllenhund Zerberus denken muss, liegt wahrscheinlich nicht ganz falsch. Schließlich beginnen urplötzlich die seit Urzeiten stummen Hunde des Ortes wieder zu bellen. Zur selben Zeit geht Joaquim Sassa an einem Strand bei Porto spazieren. Und wie man das manchmal so macht, so hebt auch er einen kiloschweren Stein auf und wirft ihn ins Meer. Doch dieser fliegt zum Erstaunen des Mannes weit hinaus und hüpft sogar mehrmals auf der Wasseroberfläche. Außerdem sollte noch vom Spanier Pedro Orce die Rede sein, der behauptet, er spüre die Erde unter seinen Füßen beben, obgleich nichts zu messen ist. Nicht zu vergessen: José Anaico. Der ist Lehrer in der Provinz Ribatejo und wird — zum Erstaunen aller — seit kurzem von einem riesigen Schwarm Stare begleitet. Fehlt noch jemand im Bunde der Geheimniskrämer? Es ist Joana Carda, die mit einem Ulmenzweig einfach so einen Strich in den Sand zieht, der sich aber nicht fortwischen lässt, nicht mit dem Schuh und nicht mit einem Besen.

Ungeheuerlich ist das, und so empfinden es auch die Beteiligten. Natürlich bleiben sie nicht allzu lange unentdeckt; denn so einen Schwarm Stare über sich zu haben, ist schon ziemlich spektakulär. Jedenfalls finden auf verwunschenen Wegen alle irgendwann zueinander und beginnen ihre Reise in Begleitung eines Hundes — gemeinsam auf dem steinernen Floß in einem fast schon urzeitlichen Gefährt: einem alten Deux Chevaux, einer Ente von Citroën.

Was für eine Allegorie auf Europa! Eine Kultur setzt sich ab und treibt mit einer Reisegeschwindigkeit von 18 Kilometer pro Tag auf Brasilien zu, also die ehemalige Kolonie. Wer kehrt hier zu wem heim? Verkehrte Welt? Vielleicht. Oder auch nicht. Was sich beim Erscheinen des Romans 1986 wie eine Satire las, scheint uns mittlerweile durch tägliche Berichte hinlänglich vertraut zu sein: Menschen auf der Flucht, die ans Festland kommen wollen und alles stehen und liegen lassen; die Flughäfen belagern und mit gezückter Pistole ein Ticket ergattern wollen. Es kommt schließlich zu Gewalt; auch einige Tote gibt es zu beklagen. Zurück bleiben die Armen, die sich die Flucht nicht leisten können und stattdessen in die leeren Luxushotels der Städte einziehen. In der Not scheinen Kultur und Zivilisation als Erstes über Bord zu gehen.

Den Roman des vor fünf Jahren gestorbenen Nobelpreisträgers noch einmal zu lesen, war ein Glück. Ein literarischer Kommentar zu unserer Zeit, der nicht erklärt, was ist, sondern uns mit einer Wirklichkeit konfrontiert, wie es sein könnte. Eine Geschichte, die von weit her zu kommen scheint und die in einer bewusst kunstvollen Sprache erzählt wird.

Geheimnisse sind nicht dazu da, gelüftet zu werden. Denn, so heißt es im "Steinernen Floß": "Diese Welt, noch und noch sei es gesagt, ist eine Komödie der Täuschungen."

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