Die 100 schönsten Romane Platz 3: "Zu viel Glück" von Alice Munro

Düsseldorf · Zehn Erzählungen enthält das Buch "Zu viel Glück" von Alice Munro. Es steht auf Platz 3 der 100 schönsten Romane, zusammengestellt von RP-Kulturredakteur Lothar Schröder. Ihre Geschichten sind kleine Wunderwerke, schreibt er.

Eine Ausnahme von der Regel muss ich machen! Um mit Alice Munro eine Erzählerin zu feiern, die nicht durch Romane bekannt und berühmt wurde, sondern durch Short Stories. Das klingt fast wie Literatur zweiter Klasse. Man sollte sie lesen, um zu kapieren, dass man mit Munro stets auf dem Oberdeck übers Meer der Geschichten schippert.

Die Kanadierin ist 84 Jahre alt und lebt zurückgezogen dort, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte: im kanadischen Ontario. Eine Provinz, die sie zu einem Ort der Weltliteratur machte. Dort spielen ihre Geschichten, dort leben auch all ihre Helden, die im Grunde keine sind, sondern allenfalls Nebenfiguren. Erst wir machen sie zu Helden, da wir uns bisweilen in ihnen wiedererkennen.

Zehn Erzählungen hat sie in ihrem vorletzten Band versammelt, der mit "Zu viel Glück" tiefgründig betitelt ist. Denn glücklich werden die Menschen bei ihr selten. Aber sie stellen sich dem Leben, Tag für Tag und so gut es eben geht, auch wenn es manchmal nicht reicht.

Erzählen können viele, aber Stoffe auf wenige Seiten zu verdichten, bis jedes Wort richtig ist, kann vielleicht nur Munro. Ihre Geschichten mit denen von Tschechow zu vergleichen, ist vielen schon in den Sinn gekommen. Sie alle haben recht.

Kleine Wunderwerke sind ihre Geschichten von nicht einmal 30 Seiten, an denen Munro so lange schreibt und kürzt und schreibt, bis die gewünschte Prosa-Essenz gewonnen ist. Es reicht, zwei kurze Einstiege ihrer Geschichten zu lesen, um zu ahnen, was das heißt. Mit diesen Sätzen wird die Erzählung "Gesicht" intoniert: "Ich bin davon überzeugt, dass mein Vater mich nur ein einziges Mal ansah, betrachtete, besichtigte. Danach nahm er als gegeben hin, was da war."

Noch vollendeter der Einstieg von "Kinderspiel": "Ich nehme an, bei uns zu Hause wurde darüber geredet, hinterher." Später versteht man, wie viele Motive darin bereits anklingen.

Und was will Munro, die vor zwei Jahren den Nobelpreis bekam? "Ich möchte, dass meine Geschichten etwas über das Leben erzählen", sagt sie lakonisch. Was das heißen könnte, hat die Jury des Man Booker International Prize einst treffend formuliert: "Alice Munro zu lesen bedeutet, jedes Mal etwas zu verstehen, worüber man noch niemals vorher nachgedacht hat."

Buch: Alice Munro: "Zu viel Glück". S. Fischer-Verlag, 368 Seiten, 9,99 Euro.

Diskutieren Sie unter dem Hashtag #schroeders100 bei Twitter mit dem Autor Lothar Schröder (@daszweitgesicht) und anderen Literaturfans: Welcher Roman gehört unbedingt in die Top100? Welcher wird Ihrer Meinung nach überschätzt?

(los)
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