Leipziger Buchmesse Jetzt wird Tag und Nacht gelesen

Köln · Am Donnerstag wird die Leipziger Buchmesse eröffnet. Viele neue Bücher sind empfehlenswert - und eines ganz besonders: Elke Heidenreichs "Alles kein Zufall". Das ist eine Art Autobiografie, zauberhaft und munter, traurig und erlogen.

Fantastische Gestalten auf der Leipziger Buchmesse
11 Bilder

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Mag sein, dass es wirklich so ist. Dass unser Leben am Ende aus mehr oder weniger vielen Geschichten besteht. Eine durchbuchstabierte Existenz gewissermaßen von A bis Z - wie die von Elke Heidenreich. Die Kölner Autorin hat jetzt ihre Autobiografie geschrieben aus lauter kleinen Erzählschnipseln, hat brav bei "Allein" begonnen und mit "Zufall" geendet.

Das hört sich zunächst einfacher und vor allem übersichtlicher an als das Leben selbst. Doch die einzelnen Kapitel folgen ausschließlich dem Alphabet. Chronologisch ist das, was wir zu lesen bekommen, ein großes Sammelsurium. Denn Heidenreich folgt jenem unberechenbaren Prinzip, das der niederländische Autor Cees Nooteboom treffsicher so beschrieb: "Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will."

Heidenreich nimmt uns also an die Hand, führt uns durch ihr gelebtes, gedachtes, erhofftes Leben, bleibt mal hier, mal dort stehen und lenkt unsere Blicke auf dieses und jenes. Das ist nie betulich. Dieser Spaziergang ist abenteuerlich - und das empfinden offenkundig auch die Leser so. In kurzer Zeit hat "Alles kein Zufall" bislang fast 100.000 Leser gefunden und sich damit aktuell auf Platz zwei der Bestsellerliste hierzulande geschoben.

Möglicherweise wird ihr neues Buch so erfolgreich wie ihr Katzenbuch "Nero Corleone" vor über 20 Jahren, auf das Heidenreich inzwischen liebevoll ironisch zurückschaut. Denn seit diesem Buch wird ihr nach jeder Lesung immer ein Katzenkalender geschenkt, schreibt sie. Und dann verirrt sie sich nach einer solchen Lesung abends in Dresden und spricht in der Not einen Mann in Joggingklamotten und mit unfreundlichem Hund an. Der führt sie schweigsam durch manch finstere Hinterhöfe - bis zum Hotel. "Geht doch", sagt der Mann. Und Heidenreich schenkt ihm den riesigen Katzenkalender. Gleich zwei Probleme gelöst.

Überhaupt unsere Vorurteile! Heidenreich, einst die einflussreichste Literaturkritikerin des Landes, belehrt nie. Sie erzählt lieber. Etwa von dem schwarzen Mann, der sich in einer durchzechten Nacht ihr mitten auf der Straße in den Weg stellt und nur sagt: "Das ist alles so ungerecht." Heidenreich rätselt und denkt sofort an Armut, Elend und Ebola. Doch der Mann meint nur diesen ewigen Regen in diesem "Scheißland". Wer denke sich so etwas nur aus, will er wissen. "Ich nicht", so Heidenreich wahrheitsgemäß. "Dann ist es ja gut", sagt er und stiefelt weiter.

Nichts als Geschichten - melancholische, lustige, lehrreiche und bittere. Wie die einsamen aus Essener Kindertagen. Alles dort ist klein, der Hof voller Müll und das Klo eine Treppe tiefer. Der Vater ist Kfz-Mechaniker, ein Hallodri und Frauenheld. Doch weil die kleine Elke seine Prinzessin ist, holt er sie manchmal von der Schule mit einem dicken Testwagen ab. So erklärt Heidenreich ihre ungewöhnliche Autovorliebe.

Noch heute fährt sie einen grünen Jaguar mit dem Nummernschild K-R 3506; die Initialen stammen von Papas Namen, Karl Rieger, und die Zahl vom Tag und Jahr seiner Geburt. Hallo Karl, sagt die inzwischen groß und 73 Jahre alt gewordene Elke, wenn sie ins eigene Luxusgefährt steigt. Damals als Schülerin trug sie sogar noch eine rote Samtjacke - aus Überresten der Stoffe, die die Mutter daheim für die neuen Kinovorhänge der Stadt nähte.

Das ist ein feinfühliges Buch, mit dem wir an ihrem Leben teilnehmen können, ohne Voyeure zu werden. Ihre Krebserkrankung wird wie beiläufig gestreift; die Liebesgeschichten sind ergreifend und denunzieren den anderen nie. So wunderbar traurig ist ihre Geschichte vom Liebesbrief, der sorgsam geschrieben in den Briefkasten gesteckt wurde.

Dann aber kommen eklatante Zweifel. Und so harrt sie die ganze Nacht mit Personalausweis und Schriftprobe neben dem blöden Kasten aus, um dem Boten das Schreiben wieder entreißen zu können. Eine Ehe sei dadurch gerettet worden, heißt es am Ende fröhlich lakonisch.

Aber Heidenreich kann auch formidabel lästern. Über "rattige Bekannte". Oder über Berliner Freaks, die überlegen, ob sie am Abend zu den japanischen Gothic-Rockern oder doch lieber in die isländische Rollschuh-Dudelsack-Disco gehen sollen. Ein bisschen wird dann wieder Else Stratmann lebendig, die sie nie ganz abgelegt hat, weil aus dieser Kunstfigur eben auch viel Wahres spricht - wie der Unmut über alles, was aufgesetzt und komisch gekünstelt ist.

Elke Heidenreich nennt sich selbst eine sentimentale Frau, die ihre eigenen Geburtstage lieber verschläft und für die Glück verdächtig ist. "Ich liebe meine Friseuse", schreibt sie. "Sie zeigt mir, dass es auf so viele verschiedene Weisen möglich ist, das Leben auszuhalten." Vielleicht geht es am Ende ja darum: das Leben auszuhalten mitsamt seinen Wahrheiten, die sich verändern können.

Und damit hätten wir dann wohl von Elke Heidenreich alles erfahren. Denkste. Weil in dem Buch Erlebtes und Erdachtes fröhlich vermischt ist. Wie die Geschichte von ihrer Rollschuh-fahrenden Oma. Ob das denn wahr sei, wird sie gefragt. Na klar, sagt sie - und: "So fängt ja Geschichtenerzählen oft an." Und das ist mehr als eine Episode. Es ist eine kleine große Lebensweisheit.

(los)
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