Neues Buch des Bestsellerautors Franzens neue Unschuld

Düsseldorf · Der neue Roman des US-amerikanischen Bestsellerautors ist mit über 800 Seiten wieder ein episches Großprojekt. Die Geschichte spielt in Ostberlin, Amerika und Bolivien - doch will diesmal der Funke nicht so recht überspringen.

 Jonathan Franzen.

Jonathan Franzen.

Foto: dpa, Arno Burgi

Wer nur die Klappentexte seiner Bücher liest, glaubt nicht im Ernst daran, dass sich daraus auch nur halbwegs eine lesbare Geschichte konstruieren ließe. Und weil es bei Jonathan Franzen immer so ist, ist es so auch bei seinem jüngsten Werk, das "Unschuld" heißt, Anfang Oktober in ein paar deutschen Großstädten wie Hamburg und Berlin vorgestellt wird und das hierzulande, wie es ebenso schön wie reflexartig heißt, natürlich mit Spannung erwartet wird.

Das ist seit den "Korrekturen" so, diesem Epos einer amerikanischen Mittelstandsfamilie. Ein Meisterwerk. Über drei Millionen Mal verkauft. Ein Buch, das dem Autor den National Book Award bescherte und maßgeblich dafür sorgte, dass ihm eine vielleicht noch größere Ehre zuteil wurde: Sein Foto kam aufs Titelblatt des "Time Magazine", und darauf gelangen Autoren nur höchst selten. Stephen King schaffte das und vor ihm die ebenfalls nicht ganz unbekannten Kollegen Hemingway, Joyce und Salinger.

Das Foto wurde damals - wie Jonathan Franzen einmal verriet - in seiner Garage gemacht, weil kein anderes Zimmer seines Hauses seinerzeit ausreichte, die enorme technische Ausstattung der ambitionierten "Time Magazine"-Fotografen in Position zu bringen. Die "Korrekturen" waren Franzens dritter Roman; dass er damit aber in Deutschland debütierte, beweist den Riecher seines damaligen Verlegers von Rowohlt, Alexander Fest. Denn dieses Buch ist in seiner ironisierend feinen Sprache, seiner gesellschaftlichen Analysekraft und seinem epischen Atem ein Prosa-Gigant unserer Zeit. Die anderen Franzen-Romane sind allesamt gut, lesens- und beredenswert; doch keins reicht an diesen großen Wurf von 2001 heran.

Wobei wir dann doch beim jüngsten Buch angekommen wären; und dass die Vorrede etwas länger geriet und zum Abschweifen neigte, hat ebenfalls seinen Grund: "Unschuld" kann ein wenig ratlos machen. Man steht vor diesem literarischen Hochgebirge und beginnt sich zu fragen, wann es nun wirklich beginnt und das - sehr wohl unterhaltsame - Vorgeplänkel mit der Einführung der verschiedenen Figuren und ihrer Herkunft, der Schauplätze und ihrer Bedeutung ein Ende hat. Und wenn dann schon gut 200 Seiten vergangen sind, beginnt man zu ahnen, dass es für die nächsten 630 Seiten zäh werden könnte.

Ja doch, über 830 Seiten schultert auch diese Franzen-Geschichte - mit dem banal anmutenden Effekt, dass man mit dem Buch entweder eine sehr lange oder eine sehr intensive Zeit verbringt, in der die Figuren zwangsläufig in den eigenen Alltag rutschen. Diese nette Kumpanei aber gelingt bei aller Elaboriertheit nicht. Wir schmunzeln über Pleiten, Pech und Pannen des zumeist intellektuellen Personals und über die vielen kleinen Lebenslügen und Enttäuschungen, mit denen die Tage beginnen und auch enden. Und natürlich gibt es Sprachperlen, die man aufsammeln und den halben Tag mit sich herumtragen kann. Was muss man über eine der Hauptfiguren, Pip genannt, schon mehr wissen, um sie zu verstehen, als uns diese paar Sätze verraten: "Pip wusste nicht, wie sie sich Männern ihres Alters gegenüber, die Interesse an ihr zeigten, anders als feindselig verhalten sollte. Das lag auch daran, dass der einzige Mensch auf der Welt, dem sie vertraute, ihre Mutter war. Aus ihren Erlebnissen an der Highschool hatte sie gelernt, dass es, je netter einer war, umso schmerzhafter für sie beide wurde, wenn er herausfand, wie viel verkorkster sie war, als ihre Nettigkeit ihn hatte glauben lassen."

Das verspricht und birgt Lesevergnügen; doch richtig nah kommen uns die Figuren nicht. Weder Pip, die aufbricht, ihren unbekannten Vater zu finden, noch Andreas Wolf, ein Whistleblower, der in Bolivien sein legendäres Aufklärungswesen treibt, der aber aus der DDR und von einem hohen Politfunktionär abstammt und einst - noch zu sozialistischen Zeiten - als 27-Jähriger einen Mord begangen hat; aus Liebe zu einer Frau.

Es geht ein bisschen kreuz und quer durch Kontinente und Zeiten, was bei 800 Seiten auch belebt. Das eigentliche Handicap der Geschichte ist, dass sie sich das Buch bei aller Sprachkraft irgendwann spröde liest, schlimmer noch: von vorne bis hinten konstruiert. Besonders auffällig und störend sind die Beschreibungen aus Deutschlands Osten, die piefigen Fluchtorte der Datschen, die Polizisten, das wilde und klischeehafte Liebestreiben als anarchische Akte unterdrückter Menschen. Franzen hat nach seinem College-Abschluss in Berlin gelebt und studiert und ist sogar Mitglied der Akademie der Künste dort geworden.

Von den amerikanischen Autoren kennt Franzen darum Deutschland vielleicht am besten. Doch um den Leser dieses Land riechen und hören zu lassen, reichte der Studienaufenthalt nicht. Gerade in diesen Passagen scheint Franzen auch etwas von seiner erzählerischen Souveränität einzubüßen. Er wird dann plötzlich zu einem wortgewandten Chronisten. Davon aber gibt es in der Literatur schon genug.

Aber da gibt es noch dieses Grundthema der titelgebenden "Unschuld", an dem die Seiten hübsch aufgefädelt sind und an dem sich die Figuren - unter ihnen auch eine Frau, die ihren behinderten Mann nur aus Pflichtgefühl nicht verlässt - entlanghangeln. Er versuche nie, in seinen Geschichten etwas Größeres zu spiegeln, sagte Franzen uns einmal im Interview. Weil seine Romane mehr gefühlt als gedacht werden sollten. Mit seinem jüngsten Roman aber scheint er genau dieses Prinzip verkehrt und damit seine erzählerische Unschuld verloren zu haben.

(RP)
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