"Gehe hin, stelle einen Wächter" Harper Lees Held wird zum Rassisten

Maycomb · Endlich erscheint auch in Deutschland "Gehe hin, stelle einen Wächter" – der mit Spannung erwartete zweite Roman der 89-jährigen Weltbestsellerautorin. Ein grandioses Buch mit einer verstörenden Botschaft.

Harper Lee.

Harper Lee.

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Endlich erscheint auch in Deutschland "Gehe hin, stelle einen Wächter" — der mit Spannung erwartete zweite Roman der 89-jährigen Weltbestsellerautorin. Ein grandioses Buch mit einer verstörenden Botschaft.

Um es gleich und aus tiefer Überzeugung zu sagen: Lassen Sie jetzt vieles einfach stehen und liegen! Tun Sie es am besten gleich! Und beginnen Sie mit einem Buch, an dem so vieles so merkwürdig ist: dass dieses Manuskript fast sechs Jahrzehnte nach seiner Niederschrift erst kürzlich wiederentdeckt wurde und über Nacht aus der legendären Ein-Buch-Autorin Harper Lee eine nicht minder sagenumwobene Zwei-Buch-Autorin machte — im Alter von inzwischen 89 Jahren.

Am unglaublichsten aber ist der Roman selbst. "Gehe hin, stelle einen Wächter" schließt an den millionenfach verkauften Weltbestseller "Wer die Nachtigall stört" zwar inhaltlich an. Doch das auch in Deutschland erscheinende Buch ist mehr als nur die Fortsetzung. Beide Bücher sind im Grunde eine Einheit und entfachen erst im Doppelpack eine Dramaturgie, die nun selbst das Nachtigall-Epos wie ein Fragment erscheinen lässt.

So viel ist zuletzt von der Buchsensation des Jahres die Rede gewesen. Und der Hype um die in Millionenauflage startende Entdeckung erinnerte dezent an den Harry-Potter-Rummel. Doch eigentlich ist es einfach nur das: eines der aufregendsten Leserlebnisse seit langem.

Dabei ist es das Debüt, das Harper Lee Mitte der 1950er Jahre geschrieben hatte, das allerdings vom Verlag abgelehnt worden war. Auch der "Wächter"-Roman spielt im fiktiven Örtchen Maycomb in Atlanta; auch begegnen wir alten Bekannten wieder: dem Rechtsanwalt Atticus Finch und seiner Tochter Jean Louise unter all den anderen. Die ist inzwischen erwachsen geworden, lebt in New York und kehrt zum Faulenzen bei Papa, Tante und dem verliebten Jugendfreund Hank für zwei Wochen in die Heimat zurück. Natürlich ist es mehr als eine nostalgische Reise in die eigene Jugend. Die 26-Jährige wird erbarmungslos in den Rassismus der Südstaaten zurückkehren, sie begegnet den alten Ideen und Vorurteilen, uralten Ängsten, anhaltender Gewaltbereitschaft. Nichts scheint sich Mitte der 50er Jahre geändert zu haben.

Atticus ist einer Bürgerbewegung beigetreten

Das aber ist falsch, weil manches Mitte der 50er Jahre eben schlimmer geworden ist. Und dafür hat sich Harper Lee ausgerechnet den ehrenwerten Anwalt Atticus auserkoren, diesen großen amerikanischen Idealisten, der einst unerschrocken einen Schwarzen vor Gericht verteidigte. Atticus ist mittlerweile einer Bürgerbewegung beigetreten, die zu verteidigen sucht, was die Weißen in den Südstaaten noch immer für ihr privilegiertes Recht halten: die Wahrung ihrer Lebensweise. Wohin Jean Louise auch schaut, sie erblickt "schmierige Kleingeister" und muss sogar erkennen, wie sich der eigene Vater in einen "Niggerhasser" verwandelt.

"Ich dachte, wir wären einfach bloß Menschen", stammelt die junge Frau. Wie klein, hilflos und leise uns diese Überzeugung begegnet! Und wie kraftstrotzend und absurd selbstgewiss dagegen Atticus auftritt: "Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass kein gesellschaftliches Arkadien dabei herauskommen wird, wenn du eine Gruppe rückständiger Menschen mit kulturell fortgeschrittenen Menschen zusammensteckst?"

Atticus ist ein Anwalt, ein gescheiter Mensch

Alles an diesem Satz ist falsch. Aus unserer heutigen Sicht. Doch er wird auch in der Obhut historischer Zeitumstände keineswegs milder. Atticus ist ein Anwalt, ein gescheiter Mensch, er hat einen Schwarzen vor der Todesstrafe zu retten versucht. Und es ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Amerika gegen eine Diktatur und ihren Rassenwahn kämpfte.

Dazu gesellt sich jetzt aber auch die unglaubliche Werkgeschichte. Denn Harper Lee schrieb zunächst diese finstere Rückkehr-Geschichte, ehe sie in ihrem zweiten Roman Jean Louise als burschikoses Mädchen deren Jugendgeschichte erzählen lässt - immerhin mit der zukunftsfrohen Kunde, dass es auch in den Südstaaten Männer wie Atticus gibt, die die Würde anderer verteidigen und eine aufgeklärte Vorstellung von den Rechten der Menschen haben. Harper Lee hat aber mit der Desillusion begonnen und erst danach das versöhnlichere Bild der amerikanischen Gesellschaft in helleren Tönen gemalt.

Von Anfang an souverän erzählt

An diesem Buch werden wir nicht vorbeikommen, weil wir es nicht als den ungelenken Erstling einer inzwischen betagten Frau abtun können. "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist von Anfang an souverän erzählt, getrieben von schnellen und lebendigen Dialogen, befeuert von Ironie und bevölkert mit einem Personal, das Lee mit wenigen Strichen effektvoll zeichnet. Dieses Buch steht auch literarisch der über 40 Millionen Mal verkauften "Nachtigall" in nichts nach.

Das Roman-Duett (und nur als solches sollte man es lesen) gibt zu denken. Und bitte nicht bloß den Leuten in Atlanta. Oder den Amerikanern. Weil dieses Werk - wie es in dieser Eindringlichkeit wahrscheinlich nur die Fiktion vermag - dem alltäglichen Rassismus nachspürt und möglicher Fremdenfeindlichkeit in uns. Dass Atticus am Ende dem Ku-Klux-Klan naherückt und Jean Louise aus Maycomb quasi vertrieben wird, ist die Erzählung einer größtmöglichen Desillusionierung. Jeder Roman trägt immer nur die Botschaft in sich, die sein Leser zu formulieren fähig ist. Harper Lee bietet uns darunter auch die folgende bittere Pille an: Aus der Geschichte lassen sich keine Lehren ziehen. Das klingt schlimm. Aber es ist stets die Wirklichkeit, die es furchtbar werden lässt.

(RP)
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