Interview mit Günter Grass "Gott sei Dank — Kopftuchverbot ist weg"

Leipzig · In einem seiner letzten Interviews sprach der Literaturnobelpreisträger mit unserer Redaktion unter anderem über "Pegida" und die diffusen Ängste der Deutschen. Doch nicht der Islam ist seiner Meinung nach eine Bedrohung für Deutschland, sondern die Arbeit der Lobbyisten.

 Günter Grass bei der Buchmesse in Leipzig.

Günter Grass bei der Buchmesse in Leipzig.

Foto: dpa, jka bsc

Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat zur Leipziger Buchmesse einen Sammelband herausgebracht: "Freipass" enthält eine Ballade von ihm sowie viele Beiträge über sein Werk und sein politisches Engagement. Nach wie vor nimmt der 87-Jährige teil an den politischen Debatten hierzulande und plant im Herbst die Veröffentlichung eines Buches, in dem er Prosa, Lyrik und Grafiken vereint.

In Ihrer neuen Antologie "Freipass" wird der Offene Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel zum NSA-Abhörskandal veröffentlicht — den auch Sie unterzeichnet haben. Ein heutzutage eher seltenes Dokument von Autoren-Protesten.

Grass Man hat ja lange versucht, die Autoren einzuschüchtern. Und das ist leider — vor allem in den 90er Jahren — auch gelungen. Auf diesen Brief von Juli Zeh hat es übrigens bis heute keine Antwort gegeben. Das ist eine grobe Missachtung der Literatur. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, als Mitte der 60er Jahre der damalige Bundeskanzler Erhard eine ganze Riege von Schriftstellern als kleine Pinscher bezeichnet hat. Damals hat das noch für einen Aufstand in der Öffentlichkeit gesorgt.

Wir sitzen hier ganz in der Nähe eines für die deutsche Einheit bedeutsamen Ortes — der Leipziger Nikolaikirche. Es gibt noch immer viele Intellektuelle, für die der Einheitsprozess überhastet geschehen sei.

Grass Die Einheit ist über die Köpfe der Beteiligten hinweg gemacht worden, die die Machthaber in der DDR gestürzt und damit ihre Schuldigkeit getan hatten. Die Einheit ist ganz und einseitig nach westdeutschen Gesichtspunkten geschehen. Auch ist der Schlussartikel unseres Grundgesetzes, wonach im Falle einer deutschen Einheit dem deutschen Volk eine neue Verfassung vorgelegt werden müsse, missachtet worden.

Sie gehörten zu jenen, die lange Zeit gegen eine deutsche Wiedervereinigung waren...

Günter Grass - Thesen und Fakten zum Israel-Gedicht
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Foto: dapd, JENS MEYER

grass ...nein, im Gegenteil: Ich war einer der wenigen, die die Teilung nicht hingenommen haben. Nur bin ich davon ausgegangen, dass wenn es dazu kommt, wir es schrittweise machen und uns in einer Konföderation einander nähern müssen - zumal die Bürger der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone die Hauptlast des verlorenen Krieges tragen und beispielsweise ohne Marshallplan auskommen mussten.

25 Jahre danach mehren sich die Stimmen, dass Deutschland in Europa wieder eine stärkere Rolle spielen soll — als die neue Macht der Mitte.

Grass Ich kann davor nur warnen. Dass wir uns nicht klein wie eine Maus machen sollten, steht auf einem anderen Blatt. Aber in der gegenwärtigen Situation, in der aus allen Ecken heraus eine Europäische Armee gefordert wird, muss insbesondere die Bundesrepublik darauf hinweisen, dass dies zwar ein richtiger Gedanke ist, dass aber dafür die Voraussetzungen fehlen: Es gibt einfach keine europäische Außenpolitik. Da könnte sich Deutschland stärker engagieren — vor allem in der Ukraine. Es beweist doch Stärke, wenn wir das Säbelrasseln der anderen Seite nicht mitmachen. Das macht Steinmeier als Außenminister sehr gut.

Welche politische Atmosphäre nehmen Sie derzeit in Deutschland wahr — auch vor dem Hintergrund der "Pegida"-Demos gerade hier im Osten?

Grass So etwas kommt nicht von ungefähr. Die diffuse Angst, die die Menschen da äußern, ist das Spiegelbild einer diffusen Politik, die zunehmend von Lobbyarbeit bestimmt wird. Das Wegdeligieren von politischen Entscheidungen in die Wirtschaft halte ich für sehr gefährlich.

Wird "Pegida" Ihrer Meinung nach von Politikverdrossenheit angetrieben?

Grass Das trifft zu für einen Teil der Leute. Natürlich gibt es auch Rechtsradikale darunter, und das sind immer die Lautesten. Aber es sind eben auch ehemalige Wutbürger dabei, und das muss man wahrnehmen. Es gibt Gründe für dieses Misstrauen gegenüber Politik. Man müsste eine Art Bannmeile um den Bundestag legen — für alle Lobbyisten. Wenn man es zuspitzen will: Nicht der Islam gefährdet die Bundesrepublik, sondern das Lobbywesen. Die Demokratie ist zu einer Scheindemokratie verkommen.

Wie bewerten Sie die Aufhebung des generellen Kopftuchverbotes?

Grass Gott sei Dank ist das Kopftuchverbot weg. Sonst müsste man ja auch den Juden verbieten, die Kippa zu tragen. Wir sollten doch froh sein, dass wir muslimische Frauen bei uns haben, die so gut Deutsch sprechen, dass sie unterrichten können.

Wie nehmen Sie Papst Franziskus wahr?

Grass Der verbreitet frische Luft. Ich bin zwar kein gläubiger Mensch, aber ich mache mir Sorgen, ob er am Leben bleibt. Es wäre nicht der erste Fall dieser Art in der katholischen Kirche. Und mit der Kurie hat Franziskus noch viel zu tun. Papst Benedikt war ein Büchermensch - sehr liebenswürdig zwar, aber zu schwach für die Position. Obgleich er einiges versucht und auch Vorarbeiten geleistet hat. Dass bei der Vatikan-Bank einiges im Unreinen war, wusste er auch. Aber er hätte nie die Kraft gehabt, die Geldwechsler aus dem Tempel zu schmeißen.

Lothar Schröder führte das Interview.

(los)
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