Dortmund Bolle reist jetzt nach Dortmund

Dortmund · Das "Mundorgel-Projekt" lockt etliche Singbegeisterte ins Dortmunder Schauspielhaus. Lieder werden aus Leibeskräften geschmettert.

Am 22. Januar werden sie wieder mit kleinen roten Bibeln ins Dortmunder Schauspielhaus eilen, und Ortsfremde werden glauben, es gebe ein Treffen frohgemuter Maoisten. In Wirklichkeit geht es zwar um Bekenntnisse, aber solche in Reimen und Tönen, mit ernstem und lustigem Inhalt, es wird von Bolle, der zu Pfingsten nach Pankow reiste, und von dem Harung gesungen, von Affenbanden und Brüdern, die Abschied nehmen. Die Sänger lieben die Stürme, die brausenden Wogen, sie geben ihre Seele ins "Kum ba yah, my lord" hinein, und ihre Seelen geraten in Rührung, wenn sie "Kein schöner Land" vortragen. Die vermeintliche Mao-Bibel ist in Wirklichkeit die "Mundorgel", das unverwüstliche, nicht selten von Schmauchspuren eines Lagerfeuers gezeichnete Liederbüchlein - und im Dortmunder Schauspielhaus darf es auferstehen: Dort gibt's das "Mundorgel-Projekt". Singen für alle!

Warum gehen die Leute hin? Weil Projektleiter Tommy Finke und die Musiker seiner kleinen Band erklärt haben, dass jeder mitsingen darf, auch wenn er das nur laut und/oder falsch kann. Auch gute Absicht sorgt für Glück. Diese vorsorgliche Absolution stimmt die Besucher entspannt, wenn sie den Saal betreten - und wenn sie ihn am Ende verlassen, sind sie abgefüllt mit Seligkeit.

Die "Mundorgel" bot und bietet Frommes (das war die Ur-Idee ihrer Macher gewesen), Verwegenes und Witziges, Dunkles und Aufschwingendes. Heimat und Ferne. Sie feiert ein Fest der Melodien, die zuweilen im Gleichschritt stapfen. Gemeinschaft bedarf ja fester Rhythmen und Metren; keine Kompanie ohne Märsche. Die "Mundorgel" ist zugleich für viele die in speckiges Plastik gebundene Erinnerung an ihre Jugend. Ans Lagerfeuer. An die Lauterkeit des Gemüts und den Harmoniewechsel von G-Dur nach C-Dur auf der Klampfe. Und an das Unwiederbringliche.

Mit jeder Strophe, die sie singen, dringen die Dortmunder Liedersänger tiefer zu ihrer Kindheit vor - zu jenen Momenten der Idylle, da Eltern weder erwünscht noch zugelassen waren. Diese Momente erhabener Bewusstwerdung ereigneten sich meist vor der Schwelle zum Erwachsen-Werden und besaßen das Zeug, im Erlebnisspeicher des Gehirns als das wahrhaft Heile abgelegt zu werden.

Und heute, nicht nur beim aktiven Singen, sondern schon bei jeder Erinnerung an ein wundervolles Lied wie "Kein schöner Land", fallen einem die vier Strophen von selbst ein und lösen - Zauber der Konditionierung - Wohlbehagen aus. Singt dieses Lied in Dortmund beispielsweise ein 60-Jähriger, musiziert sein Kindsein garantiert glücklich mit. Und immer tut sich für ihn beim Singen die ganze Welt auf: unter uns das Tal und der "Eichengrund", über uns der Vater, in der Mitte wir "Brüder" und irgendwo auch ein Hauch von Gefährdung: "Gott mag es schenken, Gott mag es lenken."

Einige der "Mundorgel"-Hits haben allerdings vor achtzig Jahren ihre Unschuld verloren, deshalb singt man sie mit Kloß im Hals. Deutschland war ohnedies immer begabt darin, Liedern etwas Strammes zu geben. Selbst angeblich unverdächtige und am Lagerfeuer beliebte Lieder wie "Wer nur den lieben langen Tag" oder "Wildgänse rauschen durch die Nacht" sind in ihrer militanten Forschheit heikel bis zur Schmerzgrenze. Dann doch lieber "Ein Mann, der sich Kolumbus nannt" oder "Schön ist ein Zylinderhut". Auch in Dortmund wird der Grenzen gemahnt, welche die "Mundorgel" bisweilen erreicht.

Etliche Lieder dieses hilfreichen Breviers entstammen der "Wandervogelbewegung", die Ende des vorvorigen Jahrhunderts die deutsche Jugend stimulierte und unter Liedgesang aus den Städten in die Natur trieb. Sie war aus einem Doppelimpuls entstanden: Sie protestierte gegen die Industriegesellschaft und ermunterte den Menschen, nach seinem wahren Ich zu suchen. Der Dichter Eichendorff war ihr Pate, weil er die Sehnsucht nach der Ferne als Lebensgefühl beispielhaft eingefangen hatte. Eins der schönsten Beispiele ist das vielfach vertonte Lied "Wem Gott will rechte Gunst erweisen, / Den schickt er in die weite Welt". Unterwegs waren die Wandervögel mit Gitarre und Laute - Einfachheit war gefragt und vonnöten. Ihr zauberischer Charakter als grüne Keimzelle ist trotz späterer Bräunung nie verloren gegangen.

In Dortmund merkt man bei kolossal Gutgelaunten, wie glücklich Singen macht und dass sich die Begeisterung über alle Generationen erstreckt, nicht nur über ehemalige Pfadfinder und KJG'ler. Als leuchtende Vorbilder könnten demente Menschen dienen, die Lieder oft mit allen Strophen auswendig können - weil alles, was sie in Kindertagen memoriert haben, auf der Festplatte ihres Gedächtnisses verlustfrei gespeichert ist. Dagegen klagte vor einigen Jahren ein Oberstudienrat eines Stuttgarter Gymnasiums, dass von 20 befragten Zwölfjährigen keiner das Lied "Der Mond ist aufgegangen" kannte.

Die "Mundorgel" beherbergt es, aktuell ist es die Nummer 20. Und in Altenheimen, Ausflugskneipen und westfälischen Theatern macht es manches Herz wieder jung. Das Schönste wäre, von Dortmund würde eine tolle Idee in alle Welt mundorgeln und dort nachgemacht.

(w.g.)
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