Friedhelm Hengsbach "Barmherzigkeit allein reicht nicht"

Frankfurt · Für den renommierten Gesellschaftsethiker und Jesuiten geht Papst Franziskus die strittigen Kirchenfragen wie Frauenrechte und Zölibat auch im Heiligen Jahr kaum an.

Friedhelm Hengsbach gehört zu den wichtigen Wirtschaftsethikern der katholischen Kirche. Der 78-Jährige war unter anderem Professor für Christliche Sozialwissenschaft und ist Jesuit - wie Papst Franziskus. Vor allem zu den Reformbemühungen des Papstes nimmt Hengsbach eine kritische Haltung ein. Ihm reichen die Bemühungen und der Ruf nach Barmherzigkeit nicht.

Hat es Sie überrascht, dass der Papst ein Heiliges Jahr ausgerufen hat, das eigentlich erst 2025 fällig gewesen wäre?

Hengsbach Der Papst ist immer gut für Überraschungen und reagiert oft spontan. Aber es ist ihm auch ein besonderes Anliegen, die Haltung der Barmherzigkeit hochzuhalten, die in unserer leistungsbezogenen modernen Gesellschaft nicht sonderlich geschätzt wird. Sie ist eine asymmetrische Haltung zu unserer Zeit. Das ist ja der Brennpunkt seiner Absichten: die Gefühle von Mitleid und Aufmerksamkeit in Handeln umzusetzen.

Kardinal Kasper sagt, dass die Barmherzigkeit vor allem ein Wesenszug Gottes ist, den der Mensch letztlich nicht erfassen kann.

Hengsbach In der Bibel heißt es, dass die Gerechtigkeit Gottes begrenzt ist, seine Barmherzigkeit aber währt ewig. Das ist problematisch, auch an der Schrift von Papst Franziskus zum Heiligen Jahr: Denn man kann die Gerechtigkeit nicht einfach der Barmherzigkeit unterordnen.

Wie spiegelt sich barmherziges Handeln in der Kirche selbst - etwa im Umgang mit den wiederverheiratet Geschiedenen?

Hengsbach Auf der zurückliegenden Bischofssynode spielte das keine Rolle. Die Kirche hat sich in dieser Frage selbst in eine Sackgasse manövriert und steckt jetzt in einer Falle. Sie hat die sakramental geschlossene Ehe als eine christliche und kirliche Ordnung statuiert. Diese absolut verpflichtende Norm - die das Lehramt festgelegt hat - kann nicht mit Barmherzigkeit aufgelöst werden. Aber möglicherweise gilt diese Norm ja gar nicht so absolut, wie die Kirche immer meint.

Dient die Barmherzigkeit der Kirche somit als Schlupfloch für scheinbar unlösbare Probleme?

Hengsbach Zumindest dort, wo sie keine Lösung der Probleme auf rechtlicher Ebene sieht. Wenn Katholiken zurecht fordern, dass den Menschen Gerechtigkeit widerfahren soll, indem korrupte Normen aufgehoben werden, dann kann man nicht mehr mit Barmherzigkeit operieren. Dann muss man die Normen ändern oder sie zumindest als relativ deklarieren.

Ist vor diesem Hintergrund das Heilige Jahr der Barmherzigkeit eher zwiespältig zu sehen?

Hengsbach Insofern, als dass der Papst wenig die Frage nach den institutionellen Regeln anpackt. Für ihn ist das nachrangig; wichtiger ist ihm der Wandel der persönlichen Einstellung. Man kann die Fragen nach der Gerechtigkeit kirchlicher Normen - moralischer und sexueller Normen - nicht mit Barmherzigkeit und neuer persönlicher Einstellung beantworten. Und es lässt sich auch mit Gnade an allen Regeln vorbei keine Lösung finden. Denn eine verpflichtende Norm, wie die Gültigkeit der sakramentalen Ehe, kann man nicht abmildern - weil sie dann nicht mehr allgemein verpflichtend ist. Also müsste die Kirche über den Sinn der Norm nachdenken.

Haben sie denn die Hoffnung auf eine Lösung in dieser Frage?

Hengsbach Eine Lösung wird es wahrscheinlich nicht geben. Stattdessen werden irgendwelche Umwege wie die Barmherzigkeit gesucht. Viele, die an der Bischofssynode teilnahmen, haben diesen Trick durchschaut. Möglicherweise liegt das in der Absicht des Papstes, einen solchen Umweg zu wählen, um die eigentliche Frage nicht aufzurühren. Er setzt auf die persönliche Umkehr. Aber es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Ist die geplante Kurienreform nicht auch Zeichen eines strukturellen Wandels?

Hengsbach Papst Franziskus setzt auf offene Prozesse. Man kann darum gar nicht erwarten, dass er irgendetwas festklopft. Er hält viele Ansprachen - mal über die Laster der Kurie, dann über die Tugenden der Kurie. Er erwartet eigentlich, dass die betreffenden Leute von selbst ihre großen Wohnungen und großen Autos aufgeben. Die deutschen Bischöfe jedenfalls tun es nicht. Das ist dann gleichsam das Ergebnis.

Das hört sich arg theoretisch an.

Hengsbach Dazu gehören für mich die Fragen nach dem Sinn des Zölibats und die Rechte der Frauen in der Kirche. Auch in diesen Fragen muss die Gerechtigkeit den Vorrang haben. Barmherzigkeit ist eine persönliche Einstellung, Gerechtigkeit aber ist eine Ordnung. Eine Kirche, die nicht in sich Gerechtigkeit verwirklicht, die darf nicht so einseitig auf Barmherzigkeit setzen. Barmherzigkeit ist nicht die Antwort auf Forderungen nach einer gerechten Kirche.

(los)
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