Düsselorf Anne Frank ist jetzt auch eine Comicfigur

Düsselorf · Das weltberühmte Tagebuch des ermordeten jüdischen Mädchens bekommt als Graphic Novel eine neue Ausdruckskraft.

Sie ist mit ihren jüdischen Eltern aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen ins vermeintlich sichere Holland. Und als es auch bedrohlich und bald lebensgefährlich wird, versteckt sich die Familie in einem Amsterdamer Hinterhaus. Bis sie 1944 verraten und allesamt ins Konzentrationslager von Auschwitz verschleppt werden. Das Mädchen, Anne Frank, überlebt wie auch ihre Schwester Margot diese Tortur nicht. Irgendwann im März 1945 stirbt sie an Typhus und Entkräftung. Was von ihr bleibt, ist Literatur - ihr weltberühmtes und in über 70 Sprachen übersetztes Tagebuch, in dem sie über das Leben im Versteck schreibt, die tägliche Angst, den Hunger wie die Sehnsüchte eines Mädchens und seine Träume.

Das Tagebuch ist ein Zeugnis, das von Generation zu Generation weitergereicht wurde und das nun eine neue Gestalt angenommen hat: als Graphic Novel. Einen ersten Versuch dazu gab es schon 2010, mit einer grafischen Biografie von Sid Jacobson und Ernie Colón. Darin wurde viel aufgeklärt über das Leid und die Zeit. Es schien, als hätten es Zeichenstift und Sprechblasen auf das Prädikat "pädagogisch wertvoll" abgesehen.

Der neue Comic ist deutlich mutiger, auch selbstbewusster. Denn das "Tagebuch der Anne Frank" in der Adaption der beiden Israelis Ari Folman (Text) und David Polonsky ist die spannende Unternehmung, für den Ursprungstext neue Bilder, Allegorien und Deutungen zu finden. Sie sind nah an der Quelle, doch ihr Buch spricht eine neue Sprache. Und damit gehen sie ein viel höheres Risiko des Scheiterns ein. Sie haben kein Buch übers Tagebuch geschrieben, sondern haben die Vorlage genommen und sie verwandelt. Die Gefahr, dass dies den Bach runtergehen kann, war vergleichsweise gering. Denn Folman und Polonsky sind ein grandioses Duo, das für die animierte Doku über den Libanonkrieg, "Waltz with Bashir", 2008 für den Oscar nominiert wurde.

Das Faszinierende ist, wie frei sich beide vom Original entfernten und die Weltberühmtheit des Tagebuchs offenbar nicht als Last, sondern als Inspiration empfunden haben. Für sie sind die Worte Anne Franks keine Art heiliger Text, sondern Literatur, die ihre Kraft auch darin beweist, dass sie fortgeschrieben und bearbeitet werden kann. Schon nach den ersten Seiten stellt sich nicht mehr die Frage, ob man das nun darf oder nicht. Folman und Polonsky haben gebührenden Respekt vor den Worten des Mädchens, aber sie erstarren nicht vor Ehrfurcht. Und so hat man das Gefühl, als würden diese Aufzeichnungen erst jetzt aus dem Korsett eines Weltdokumentenerbes - dass es seit acht Jahren tatsächlich ist - befreit.

Die beteiligten Personen werden zu Beginn vorgestellt, ahnungslos sie alle. Anne vorneweg, das Mädchen; mit ihren ersten Anbetern in der Schule und ihrer ersten großen Liebe: dem Tagebuch. Das Papier wird mehr und mehr ihr Vertrauter, und damit er ansprechbar wird, schreibt Anne an Kitty. Manchmal werden längere Textpassagen auf Doppelseiten gedruckt, mal reichen kurze Dialoge, ein anderes Mal reichen Allegorien, um die Seelenlandschaft des Mädchens zu erkunden. Es gelingt tatsächlich, Anne in berühmten Gemälden wie Edvard Munchs "Der Schrei" zu montieren oder als Adele Bloch-Bauer in Klimts gleichnamigen Gold-Bild darzustellen.

Dazu dann die vielen Stimmen von außen, die auf das Mädchen eindringen: "Margot würde das niemals machen!", "Hilf gefälligst mal in der Küche", "Vergiss nicht, was du für ein Glück hast! Da draußen sterben Kinder" und "Keine Panik, da fallen nur Bomben". Das Stimmengewirr im Kopf eines Mädchens, das im Versteck immer nur das Mädchen bleiben kann. Die Graphic Novel ist auch witzig, ungerecht, sie macht aus Anne Frank keine Heilige. Denn natürlich schaut sie unter der großen psychischen Belastung auch mit Spott auf ihre Mitbewohner. Sie ist schüchtern und eitel, träumt von der Liebe und hofft, nach dem Krieg als Schriftstellerin ganz groß rauszukommen.

Die Graphic Novel spielt sich im Kopf des Mädchens ab. Und nur dort scheinen die Bilder und Träume zu entstehen, mit denen Anne ihre Welt belebt. Wie dicht das Zusammenspiel von Zeichnung und Text tatsächlich ist, lässt sich leicht am eigenen Lesetempo feststellen. Es verlangt durchaus Zeit, den vielen Hinweisen gerecht zu werden.

Das Buch endet mit den letzten Aufzeichnungen des Tagebuchs. Also nicht mit dem Abtransport. Von dem wird erst später erzählt, als Nachtrag, ein nüchterner Epilog. Das letzte Bild ist die vielfache Anne Frank, Varianten ihres Gesichts janusköpfig ineinander gefügt: Anne, die schläft, die schmunzelt und weint, die zweifelt und die sich ärgert, die apathisch ist und träumt. Die enorme Leistung des Comics ist es, dass wir die Zeit und in ihr Anne Frank verstehen lesen - nicht nur als weltberühmtes Opfer der Shoa, sondern als ein Mädchen, dem die Worte das Leben sind.

Viele Schulen und etliche Plätze tragen Anne Franks Namen. Mehrfach auch wurde ihr Leben verfilmt. Alles Versuche, das Schicksal eines 15-jährigen Mädchens und mit ihrem Leid das Barbarische im Menschen der Vergessenheit zu entreißen. Dazu gehört jetzt auch das gezeichnete Tagebuch, das nicht nur allein für junge Leser bestimmt ist. Die Bildergeschichte ist ein virtuoser und zugleich ungeheuerlicher Brückenschlag aus der Vergangenheit hin zu einer Generation, die die Shoa nur aus dem Geschichtsunterricht kennt. Auch darum verdient dieses Buch, ein Ereignis genannt zu werden.

(los)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort