1985 - als ich wurde, wer ich bin

Die 80er gelten musikalisch als zehn Jahre lange Geschmacksverirrung. Unser Autor sieht das anders: Für ihn war 1985 das Jahr, das ihn am stärksten beeinflusst hat. Eine persönliche Hommage an die Zeit des kulturellen Erwachens.

Es gibt in meinem Plattenregal ein Fach, das den Herzensangelegenheiten vorbehalten ist. Jene Alben stehen da, die ich nie weggebe, die ich retten würde, wenn das Haus in Flammen steht. Ich habe sie neulich durchgesehen, was schön war, weil solch ein Regal Erinnerungsspeicher ist, Tagebuch und Biografie zugleich. Mir fiel auf, das viele Platten darin, sehr viele sogar, in diesem Jahr 30 werden: "Steve McQueen" von Prefab Sprout etwa, "Cupid & Psyche" von Scritti Politti, "Slave To The Rhythm" von Grace Jones, "Meat Is Murder" von den Smiths, "Psychocandy" von Jesus & Mary Chain und "Boys & Girls" von Bryan Ferry. 1985 war ein wichtiges Jahr für mich; das Jahr, das meinen Geschmack formte. Ich würde sogar sagen: 1985 ist die Basis, von der aus ich meine Entdeckungstouren in die populäre Kultur unternahm. Ich kehre heute noch gerne dahin zurück.

Ich lebte damals in Vechta, einer Stadt in Niedersachsen: 25 000 Einwohner und zwei Geschäfte, in denen es Platten gab. Meine erste Platte kaufte ich mit neun, es war "Help!" von den Beatles, sie kostete 14,90 Mark. Ich war zehn, als ich begann, Musiksendungen im Radio zu hören. Ich schnitt auf Kassette Lieder mit, und ich schrieb auf, wie die Lieder hießen und wer sie sang. Wenn der Moderator die Lieder und ihre Interpreten nicht verriet, löschte ich die Musik von meiner Kassette, denn was nicht benannt werden konnte, zählte für mich nicht, es hatte keinen Wert. Ich schrieb Hitparaden mit, ich erfand meine eigene Steno-Schrift, damit es schneller ging. Und wenn ich die Top 10 aus Deutschland, England und Amerika notiert hatte, schrieb ich meine Hieroglyphen auf Din-A-5-Zetteln ins Reine und heftete sie in ein Ringbuch mit grünem Plastiküberzug.

1985 war das Jahr, in dem ich 13 wurde, und ich hörte damals dienstags jene Radio-Sendung auf Bremen 4, in der die britischen Charts vorgestellt wurden - alle Neueinsteiger und das Beste aus den Top 10. Es war ein großartiges Pop-Jahr, mich elektrisierte alles: das elektronische Instrumental-Stück "Axel F." von Harold Faltermeyer ebenso wie die Dimmerlicht-Hymne "Careless Whisper" von George Michael; das Anti-Kriegslied "19" von Paul Hardcastle und die herrliche Jungsstimme in "Take On Me" von a-ha. Ich mochte "I Want To Know What Love Is" von Foreigner ebenso wie "Crazy For You" von Madonna, und ich mag beide Stücke immer noch. Als gegen Ende des Jahres "West End Girls" von den Pet Shop Boys erschien, war ich hin und weg: "West End Girls" verband London und Vechta, ein Lied als Brücke, vier Minuten Transit. Es klang so lässig und informiert, wehmütig und cool zugleich. "West End Girls" war Pop, und Pop war eine Zeitschrift: Darin konnte man alles über die Gegenwart lesen.

Die letzte halbe Stunde dieser Sendung auf Bremen 4 war den Independent-Charts vorbehalten: Eine Hitliste mit Titeln, die bei kleinen, unabhängigen Firmen erschienen waren. Dort begegnete ich zum ersten Mal dem kantigen Post-Punk von The Fall und den kandierten Gitarrenwällen von Jesus & Mary Chain. Das Schöne an den 80er Jahren und vor allem an den 80ern in England war ja das Nebeneinander von Avantgarde und Mainstream, von Abseitigkeit und Massenbewegung, von Melancholie und Euphorie, Trash und Ambition. Man muss sich nur die damals populäre Sampler-Reihe "Now That's What I Call Music" ansehen: Dire Straits und Phil Collins folgten auf Sisters Of Mercy und Style Council; das war ganz natürlich, an den Unterschieden stieß sich niemand.

Bei uns im Zeitschriftenladen gab es eine einzige englische Zeitschrift, sie hieß "Smash Hits", und sie hatte das Niveau der deutschen "Popcorn". Es ist mir heute noch ein Rätsel, warum gerade dieses Magazin dort angeboten wurde, aber ich werde es nie lösen, denn den Laden gibt es nicht mehr. "Smash Hits" berichtete am liebsten über Wham!, Duran Duran und Tears For Fears, aber es gab auch Artikel über Morrissey und die Talking Heads. Ich verstand natürlich nur das Wenigste, aber ich las dennoch, und ich begann, Bezüge herzustellen: New Order, stand dort, seien aus einer Band hervorgegangen, die Joy Division hieß und einen anderen Sänger hatte, aber der habe sich umgebracht. Also versuchte ich, an Platten von Joy Division zu kommen, und ich fand sie beim älteren Bruder eines Freundes. Scritti Politti nahmen einen Song mit Miles Davis auf, also versuchte ich mehr über diesen Kerl mit der Trompete zu erfahren, und ich bekam die Informationen von meinem Vater, der ein Jazz-Fan ist, alles nach "Kind Of Blue" jedoch als Krach ablehnt - alles nach 1959 also. Ich hörte, dass "Meat Is Murder" nicht das erste Album der Smiths war, also versuchte ich, mir die Vorgänger zu besorgen, und ich fand sie beim Freund des älteren Bruders eines Klassenkameraden. So lernte ich Musik kennen und Leute, ich kam ins Gespräch, und ich merkte, dass es viele gibt, sie sich für das interessieren, was mich bewegte.

1985 war das Jahr, als sich Joschka Fischer in Turnschuhen als Umweltminister in Hessen vereidigen ließ, als Christian Klar verurteilt und Gorbatschow Generalsekretär wurde. 1985 war "Rainbow Warrior", Pershing II und Boris Becker. Meine Zeit verbrachte ich indes mit Musik, mein Taschengeld gab ich für Platten aus, und weil meine Eltern begriffen, wie wichtig das für mich war, durfte ich mir jedes Mal eine Platte aussuchen, wenn wir zum Einkaufen in Städte wie Oldenburg oder Bremen fuhren. Ich verbrachte Stunden in Plattenläden, wog ab und hörte vor, und am Ende traf ich unter Zeitdruck meine Auswahl: "Hounds Of Love" von Kate Bush, "Around The World In A Day" von Prince, "A Secret Wish" von Propaganda, "Promise" von Sade. Über die Musik entdeckte ich die Vorzüge anderer Medien, und ich fürchte, ich werde mich nie wieder so großartig fühlen wie in dem Moment, als ich nach "Zurück in die Zukunft" aus dem Kino trat. Es war eine Mittagsvorstellung, es war noch hell, ich war geblendet, und ich hatte kein Skateboard. Aber das war egal. Wenn ich den Hit aus diesem Film höre, "The Power Of Love" von Huey Lewis & The News, erinnere ich mich an dieses Gefühl.

Die Musik war mein geistiges London, der Ort, an dem alles möglich war. Eine Utopie. Ich könnte stundenlang über den Anfang des Lieds "The Sweetest Taboo" von Sade sprechen, wie sich das Geräusch englischen Regens mit sanfter Percussion verbindet, wie sich die Stimme an den Groove schmiegt und sich Europa allmählich in einen exotischen Kontinent verwandelt. Ich habe tagelang darüber nachgedacht, warum "The Headmaster Ritual", das erste Lied auf "Meat Is Murder" von den Smiths, so verstolpert anfängt, als seien die ersten Sekunden versehentlich nicht aufs Band gekommen. Und ich weiß nicht, wie viele Stunden ich auf das Cover des Prefab-Sprout-Albums "Steve McQueen" geblickt habe: Die Band versammelt sich dort um ein Motorrad, sie sind Freunde, und hinten krallen sich die Bäume der Provinz im Nebel fest. Die Freunde könnten aufbrechen und abhauen in die große Stadt, aber sie passen nicht alle auf das Motorrad, also warten sie, denn sie sind ja Freunde, und dabei sehen sie so verflixt gut aus. Ich trug meine Hemden damals mit geschlossenem obersten Knopf, weil Bryan Ferry das so machte. Und einmal stand ich beim Schützenfest in unserer Stadt im Sakko am Autoscooter - allerdings tatsächlich nur einmal, denn ein Freund wies mich darauf hin, dass das nun doch etwas too much sei.

Ich fand alles wichtig, ich hätte nie gesagt, dass "Tarzan Boy" von Baltimora weniger Bedeutung habe als "Marlene On the Wall" von Suzanne Vega. 1985 eröffnete mir Perspektiven, ich fand Prefab Sprout toll, also landete ich bald bei Aztec Camera und Orange Juice. Bryan Ferry brachte mich zu Roxy Music, über Roxy Music lernte ich Brian Eno kennen, und der führte mich zu David Bowie. So ging es weiter, so geht es bis heute, es lässt sich alles auf 1985 zurückführen. Wenn ich heute Belle & Sebastian mag, liegt das an den Smiths. Wenn ich zu verstehen beginne, wie großartig das Werk von Miles Davis ist, könnte die Vorbereitung durch Scritti Politti der Grund sein. Was außerdem geblieben ist, ist die Freude an chromglänzenden Popklängen, der Glaube an die Schönheit und den Wert des Populären, die Euphorie beim Auspacken einer Platte. Seit 1985 weiß ich, dass jedes Lied, und sei es noch so billig, ein Versprechen ist.

30 Jahre reichen nicht aus, um zu beschreiben, was drei Minuten Musik bewirken.

(RP)
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