Streamen statt Speichern Wir geben unsere Schätze weg

Düsseldorf · Wir vertrauen unsere Daten der Cloud an oder geben uns damit zufrieden, sie überhaupt nicht erst zu besitzen, sondern bloß zu streamen. Die Vorteile dieses Wandels sind offensichtlich, die Nachteile nicht.

Streamen statt Speichern: Wir geben unsere Schätze weg
Foto: Martin Ferl

Die Werber sind schuld, die Marketingmenschen mit ihrem verführerischen Blender-Englisch — will sagen: wir selbst, die wir uns gegen alle Vernunft davon bezirzen lassen. Wieder einmal.

Denn Wolken sind zwar echte Sympathieträger, ihr ständiges Werden und Vergehen fasziniert wie die Meeresbrandung oder ein Kaminfeuer — sonderlich vertrauenerweckend aber sind sie nun wirklich nicht, diese Gemische aus Wasser und Staub: nicht greifbar, maximal labil, ultimativ flüchtig. Einer "Wolke" würden wir nie etwas anvertrauen, schon gar nichts, was wir am Liebsten unterm Kopfkissen hüten würden: unsere geheimsten Geschäftsdaten und liebsten Fotos, Filme, Mails und Musiksammlungen.

Aber das Wolkenkuckucksheim der Technikgläubigen heißt ja auch nicht Wolke, sondern "Cloud". Das klingt nach Laser, Future. Awesome! "Cloud Computing ist kein Hype mehr, Cloud Computing ist Realität" — mit diesem Satz beginnt eine Broschüre des Bundesamts für Sicherheitstechnik in der Informationstechnik zum Thema, und das klingt nicht zufällig wie das Eingeständnis einer Niederlage.

Outsourcing ohne Not

Das Cloud-Prinzip könnte kaum simpler sein: Es umschreibt die Auslagerung von Rechenprozessen und Datenspeicherung, heraus aus dem eigenen Gerät. Notwendigkeit besteht dafür weniger denn je: Das Moore'sche Gesetz, nach dem sich die wichtigsten IT-Kennzahlen wie Chipgeschwindigkeit und eben auch Speicherplatz alle zwei Jahre verdoppeln, ist auch im 50. Jahr seines Bestehens noch nicht widerlegt. Mangel an Speicherplatz ist kein Problem mehr, weil der Preis gen Null sinkt. Eine externe Festplatte von der Größe eines Taschenrechners fasst 1 Terabyte, also 1000 Gigabyte, genug für fast eine Viertelmillion Lieder oder 85 Millionen Word-Textseiten — und kostet 60 Euro.

Doch diesen spottbilligen, soliden, sicheren Speicher nutzen wir immer seltener. Selbst USB-Sticks empfinden viele als zu groß, zu schwer, zu umständlich. Bequemlichkeit und Selbstbesoffenheit treiben uns in die Cloud. Motto: Ein Leben ohne stets synchronisierte Daten auf Smartphone, Tablet, Laptop ist möglich, aber sinnlos. So treiben wir die Digitalisierung, Virtualisierung, Abstrahierung immer weiter. Unsere Schätze haben wir nicht mal mehr digital in unserer Nähe, als MP3-Dateien zum Beispiel.

Immer öfter speichern wir sie nur noch online.

Oder überhaupt nicht mehr.

Was man digital kauft, besitzt man fast nie

Das betrifft nicht nur unsere Lieblingslieder, sondern auch Filme (Netflix), Dokumente (GoogleDocs) und alle anderen Dateien (Dropbox). Sogar komplette Computerspiele sollen in die Cloud ausgelagert werden. Das muss nicht immer kontraproduktiv oder gefährlich sein: Wie viel Geld, Platz und Aufwand sparen etwa Film- und Serienjunkies durch Streaming gegenüber DVD-Käufen? Unwohl darf einem aber dabei werden, dass die Cloud ist, was in den vergangenen Jahren die eigene Festplatte war: der Standard-Speicherort.

Wer dabei aber was genau speichert, streamt, verkauft, vermietet oder bloß zum Konsum lizenziert und zu welchen Bedingungen, bleibt selbst bei einer Lektüre der jeweiligen AGB nebulös.

Das hindert kaum einen an der Nutzung von Cloud-basierten Diensten — zu verlockend klingt das Heilsversprechen: maximale Bequemlichkeit, komplett unabhängig von Ort, Zeit und Endgerät. Bei ewigem Leben der Daten, ohne Bedrohung durch Handyklau oder abgerauchte Festplatten.

Eifrig verdrängt wird dabei, dass man die Souveränität über seine "Sammlung" komplett aufgibt. Was man teils zum selben Preis gekauft hat wie "echte" Musik, Filme oder Texte auf physikalischen Datenträgern, darf man beispielsweise nicht vererben. Was daran liegt, dass man diese Inhalte im juristischen Sinne überhaupt nicht besitzt, weil man nicht sie selbst, sondern nur zeitlich beschränkte Nutzungsrechte daran erworben hat.

Leasen, was wir lieben — passt das zusammen?

Amazon vermietet Speicherplatz an 100.000 Firmen

Das maßgebliche Wachstum der Cloud-Systeme kommt aber ohnehin aus der Wirtschaft: Selbst in unserem konservativen und auf Datenschutz bedachten Land werden sie von jedem zweiten Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern genutzt, bei jenen mit mehr als 500 Mitarbeitern sind es sogar 70 Prozent. Nur ein Drittel aller deutschen Firmen überhaupt ist Cloud-skeptisch.

Entsprechend umkämpft ist der Markt, in dem etwa Google, Microsoft, Sony und IBM aktiv sind. Erst zu Beginn der Woche kündigte Apple einen Konkurrenten für den beliebten, aber wirtschaftlich noch nicht tragfähigen Musikstreaming-Dienst Spotify an, der in iTunes (800 Millionen Nutzer) integriert wird. 2007 hatte Steve Jobs noch getönt, dass die Idee des Streaming gescheitert sei: "Die Menschen wollen Musik besitzen!" Auch weil sich das inzwischen als falsch erwiesen hat, kündigte Apple zeitgleich an, mehrere Milliarden Dollar in seine Datenleitungen und Rechenzentren investieren zu wollen. Für Steve Garrison von der Netzwerkfirma Pica8 war das überfällig: "Schließlich kann man kaum an einem Freitagabend um zehn Amazon anrufen und sagen: 'Verdreifacht sofort die Kapazitäten für mich!'"

Denn Microsoft mag bereits 2011 rund 90 Prozent seines Forschungsbudgets von fast 10 Milliarden Dollar in den Cloud-Bereich investiert haben, doch der Branchenprimus heißt Amazon. Über seine Tochter AWS verleiht der frühere Buchversender Speicherplatz an mehr als 100.000 Firmen. Teils stunden- oder tageweise, teils auf Dauer, immer flexibel. Das befreit Startups von der Sorge, an zu großem Erfolg zu scheitern, weil ihre Computerkapazität nicht mit dem Wachstum der Kundenzahl mithalten kann — und erlaubt Weltunternehmen, ihre eigenen IT-Abteilungen radikal zu dezimieren. Das spart insgesamt Ressourcen, ähnlich wie beim Carsharing. Und beschert Amazon 265 Millionen Dollar Gewinn bei 1,6 Milliarden Dollar Umsatz allein im vergangenen Quartal (Quelle).

"Unlimited everything" — braucht fast keiner, will fast jeder

"Wir sehen hier und da noch Widerstand gegen den Wandel", sagt Amazon-Technikchef Werner Vogels, aber auch, dass man den gesamten Globus bereits in 28 Zonen eingeteilt habe und dass sein Konzern an jedem einzelnen Tag um so viel Rechenleistung wachse, wie ihm vor zehn Jahren insgesamt zur Verfügung gestanden habe.

Das neueste Angebot lautet "Unlimited everything" — unbegrenzter Speicherplatz für jeden, für schlappe 60 Dollar im Jahr. Braucht fast keiner, will aber fast jeder haben.

600 Millionen Dollar hat Amazon übrigens von der CIA bekommen, um eine eigene Cloud für die insgesamt 17 US-Geheimdienste aufzubauen. Auch die Otto-Normal-Clouds stehen aber nicht "nur" Geheimdiensten und Hackern offen. Sondern grundsätzlich auch jedem US-Gericht, solange nur der Anbieter amerikanisch ist. Diese schnüffeln auch direkt selbst: Apple behält sich vor, gegen Nutzer vorzugehen, deren Datei-Inhalte "schädlich", "vulgär" oder "gehässig" sind — was immer das heißen mag. Microsoft verbietet die Speicherung "vollständiger oder teilweiser Nacktaufnahmen". Ein einziger unbeabsichtigter Verstoß dagegen kann dazu führen, dass eines Tages im Morgengrauen die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss vor einer deutschen Wohnungstür steht.

"Warum?" statt "Warum nicht?"

Das alles könnte man bedenken und beim nächsten penetranten Drängen "Nutzen Sie die Cloud!" fragen "Warum?" anstatt "Och, warum eigentlich nicht?".

Tut man aber nicht.

"Deutschland ist noch weniger als ein digitales Entwicklungsland, Deutschland ist ein 'Digitally Failed State'", schreibt der Digital-Vordenker Sascha Lobo dazu. Sein Kollege Johnny Haeusler verzichtet darauf, seine Mails zu verschlüsseln — aus Sorge, damit erst recht in den Blick von Geheimdiensten zu geraten. Stattdessen wirbt er für ein Comeback des Analogen: "Über bestimmte Inhalte kommuniziere ich gar nicht mehr digital, sondern nur noch im persönlichen Gespräch."

Die Mehrheit aber drängt ihre Daten weiter wie von Sinnen den Digital-Giganten auf, im Tausch gegen ein bisschen Bequemlichkeit. Egal, wie viele Hackerangriffe auf Bundestag, US-Regierung und Promi-Nacktfotoalben bekannt werden. Es ist die Fortsetzung des Facebook-Wahnsinns, der Vollsprint in die selbstverschuldete Unmündigkeit.

"Alle Cloud-Anbieter wollen die Plattform bereitstellen, auf der wir unser digitales Leben leben", sagt Frank Frankovsky vom Branchenverband der Datenzentren in den USA.

Wem diese Aussage nicht erschreckend erscheint, der möge bedenken, dass unser "digitales Leben" zunehmend deckungsgleich wird mit — unserem Leben.

Dieser Text ist zuerst in der Sonntagsausgabe der Rheinische Post App erschienen.

(tojo)
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